Obituary Crescendo 8.2010
————————————————————
In Memoriam Anneliese Rothenberger
Rede zum 1. Todestag am 24. Mai 2011, Schloß Mainau
Wir haben uns heute getroffen, um einer Frau zu gedenken, die in unserem Leben etwas Besonderes bedeutet hat, als Künstlerin, als Kollegin, als Freundin; einer Frau, die viele Gesichter und Facetten hatte. Und damit meine ich nicht allein die ganze Bandbreite ihrer Opernrollen, die von der kleinen unschuldigen Gretel in Humperdincks Märchenoper bis zur Mörderin Lulu reichte. Damit meine ich auch die ganz unterschiedlichen Bilder, die man mit ihrem Namen assoziiert. Für Klassik-Liebhaber war und ist sie eine Opern- und Liedsängerin von Weltrang, eine Künstlerin, die vor allem im Mozart- und Strauss-Repertoire Maßstäbe setzte, die seither selten erreicht, geschweige denn übertroffen wurden.
Für das so genannte „breite Publikum“ aber ist sie das Synonym für „Klassik im Fernsehen“. Anneliese Rothenberger hat auf diesem Gebiet Pionierarbeit geleistet, sie hat mit ihren Sendungen Millionen von Menschen erreicht, die nie ein Opernhaus oder einen Konzertsaal von innen gesehen haben. Laut Umfragen war sie in den Siebziger Jahren, „die beliebteste Frau im deutschen Fernsehen“.
Es gab nicht wenige Hardcore-Klassikfans und auch einige Journalisten, die ihr diese Breitenwirkung übel genommen haben. „E“ und „U“, Ernste und Unterhaltungsmusik waren zu dieser Zeit im deutschsprachigen Raum viel strenger getrennt als z. B. in den USA, wo man es keineswegs als ehrenrührig empfand, wenn Opernstars wie Birgit Nilsson oder Franco Corelli in Fernsehshow auftraten. Dass sie in Deutschland für ihre Fernseherfolge oft angegriffen wurde, vor allem von einem pseudo-intellektuellen Teil der Presse, machte ihr auch Jahre später noch zu schaffen. Nach einem besonders gemeinen Artikel in einer Tageszeitung schrieb sie mir: „Wahrscheinlich wäre es diesen Leuten lieber, wenn sie schreiben können: Sie hat sich konsequent von den Niederungen des Fernsehens fern gehalten, auch mit der Konsequenz, dass sie heute von der Fürsorge lebt!“
Schon als Schüler brachte es mich auf die Palme, wenn man über ihre TV-Erscheinung die Bedeutung der Sängerin verkannte. Und wenn später Elke Heidenreich alias Else Stratmann meine geliebte Anneliese auf das Image der Yellow Press reduzierte, war ich drauf und dran ihr einen gesalzenen Hörerbrief zu schreiben. Wusste sie denn nicht, dass die Frau als Künstlerin Weltklasse war? Kannte sie nicht ihre Aufnahmen und Opern-Filme? Hatte sie nicht gelesen, dass sie laut Lotte Lehmann die „beste Sophie der Welt“ war? Dass Renata Tebaldi ihr nach einer gemeinsamen Bohème an der Metropolitan Opera coram publico die Hand geküsst hatte? Hatten sie nicht den berühmten Salzburger Rosenkavalier unter Karajan oder die Münchner Arabella mit Lisa Della Casa gesehen? Wollte sie nicht wahrhaben, dass die Rothenberger in so konträren Partien wie Konstanze und Lulu selbst notorische Skeptiker überzeugt hatte?
Um so wohltuender war es, als man bei ihren Auftritten in August Everdings da capo-Sendung in Alfred Bioleks Boulevard Bio und zuletzt bei Beckmann statt der Yellow-Press-Figur die „wahre“ Rothenberger erleben konnte: Direkt, ehrlich und nicht immer nur „nett“. Everding konnte selbst schlagfertige Künstler in Grund und Boden reden; doch Anneliese war eine der Wenigen, die ihm kontra gaben. Als er wieder mal die Frage stellte: „Wie war ihr Verhältnis zum Regisseur?“, schoß sie zurück: „Ich hatte nie ein Verhältnis mit einem Regisseur!“
Der Mann ihres Lebens, Gerd W. Dieberitz, war zugleich ihr Manager. In der Branche galt er als ruppig, und bei Proben sollen schon mal die Fetzen geflogen sein. Bei den wenigen Malen, wo ich mit beiden zusammen traf, u. a. bei einem Gesangswettbewerb in Wien, hatte ich den Eindruck eines perfekt aufeinander eingespielten Teams.
Was hat, von der Stimme einmal abgesehen, ihre Persönlichkeit ausgemacht?, fragte mich der Moderator beim Nachruf im Deutschlandradio. Die ersten Begriffe, die mir in den Sinn kam, waren „Professionalität“ und „Gewissenhaftigkeit“. Anneliese war sehr gewissenhaft, auch in Dingen, die man für weniger wichtig halten mag. Zum Beispiel im Beantworten von Fanpost. „Du beantwortest wirklich jeden Brief?“, fragte ich ungläubig, „Jawohl, jeden!“, antwortete sie, „die Leute haben sich die Mühe gemacht, mir zu schreiben, und ich finde es selbstverständlich, dass ich ihnen antworte.“
Anneliese war eine Arbeiterin, die sich alles abverlangte. Allein, was sie in den Studios der Rundfunkanstalten, Plattenfirmen und Fernsehsender leistete, muss ihr erstmal eine nachmachen. Wenn ich mir heute ihre NDR-Aufnahme von Künnekes „Künstlerball bei Kroll“ (NWDR 1950) anhöre, fällt es mir schwer zu glauben, dass dieser rasante „Rap“ als Direktsendung über den Äther gegangen sein soll. Solch hochvirtuoses Geplapper, noch dazu mit so vielen Zungenbrechern – LIVE gesendet, ohne Schnitt und Korrektur? Aber ich trau’s ihr zu. Sie war halt erzprofessionell.
Ihre „Ehe“ mit der Schallplatte war lang und glücklich. Der Electrola-Produzent Fritz Ganss hatte in ihr die geeignete Nachfolgerin für Erna Berger gefunden. Wie diese war auch Anneliese Rothenberger eine Sopranistin zwischen Lyrik und Koloratur; als Martha beherrschte sie die volksliedhafte Schlichtheit der „letzten Rose“ genauso wie die virtuosen Verzierungen in den Ensembles.
Was neben der hervorragenden Textverständlichkeit bei ihren Aufnahmen immer wieder auffällt: Die Unverkennbarkeit des Timbres. Eine einzige Phrase reicht aus, um sie zu erkennen (was man von manchen lyrischen Sopranen, die heute als Weltklasse gelten, schwerlich behaupten kann). Sie selber hatte kein sonderliches Interesse an ihren eigenen Platten. Als ich sie auf die Neuausgabe der Wiener Fledermaus unter der Leitung von Oscar Danon ansprach, wusste zunächst gar nicht, was ich meinte. Sie hatte diese herrlich vitale, großartig besetzte Einspielung völlig vergessen.
Im Gegensatz zu manchen Profis, die sich selbst viel abverlangen, war sie großzügig gegenüber den Schwächen anderer. Bei Gesangswettbewerben war sie ausgesprochen fair im Umgang mit den jungen Sängern, jedenfalls habe ich von ihr nie ein hartes Wort gehört. Und wenn es hervorragende Talente gab, so wie hier vor zwei Jahren, bei ihrem letzten Wettbewerb auf der Mainau, konnte sie sich freuen wie ein Kind.
Beim Abschlusskonzert im Jahr 2009 übernahm sie wie gewohnt die Moderation. Alles lief glatt, und so waren wir Juroren ziemlich überrascht, als sie nach dem Konzert total zerknirscht auf uns zu kam und meinte: „Bitte, entschuldigt! Das hätte mir nicht passieren dürfen!“ – „Ja, um Gottes Willen, was denn?“ – „Dass ich Euch nicht vorgestellt habe!“ Noch Wochen später machte sie sich Vorwürfe, uns „vergessen“ zu haben.
Den Grund für solch extreme Gewissenhaftigkeit kann man ahnen, wenn man ihre Memoiren liest. Dort beschreibt sie das schrecklichste Erlebnis ihres Lebens, den Tod ihres kleinen Bruders. Die beiden hatten auf der Straße Kriegen gespielt, und der 5jährige war dabei vor einen Lastwagen gerannt. Der Vater gab ihr die Schuld an diesem Unfall, redete monatelang kein Wort mit ihr. Und da er sehr herzkrank war, gab ihm der Tod des Jungen den Rest: er überlebte ihn nur um ein Jahr. Führte die Kompensation von Kindheits-Trauma und Schuldkomplex zu einer besonderen Ausprägung von Gewissenhaftigkeit und Professionalität? Es mag allzu sehr nach Küchenpsychologie klingen, aber ich bin überzeugt, dass es bei ihr so war.
Nach dem Tod ihres Mannes im Jahr 1999 fürchtete ich eine zeitlang, sie würde nicht mehr auf die Beine kommen. Doch sie raffte sich wieder auf. Trotz ihrer mädchenhaften Statur war sie körperlich ziemlich robust: immer wieder hat sie sich von Krankheiten und Rückschlägen erholt. Ein echtes Steh-Auf-Mädchen.
Ihre Freundschaft hat mir viel bedeutet. Ihre Platten und Filme haben mir unzählige schöne Stunden beschert, ihre Mitwirkung als Interviewpartnerin hat unsere Filme über Fritz Wunderlich (2006), Lisa Della Casa (2008) und Robert Stolz (2009) um eine unverwechselbare Farbe bereichert. Und nicht zuletzt war sie es, die mich auf diese Insel holte, zusammenführte mit der Familie Bernadotte, mit Brigitte Stephan und den Juroren des Wettbewerbs. Auch posthum hat sie uns viel Freude geschenkt, durch ihre Stimme, durch ihre Kunst, durch ihre Gegenwart in unseren Gefühlen und Gedanken. Dafür möchte ich an dieser Stelle, im Namen all ihrer Freunde, von ganzem Herzen danken.