Thomas Voigt
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Dimitri Mitropoulos

Der Mahler-Märtyrer

Vortrag bei den Musikwochen in Toblach, 2006
Autor:

Musik: ca. 58 Min.
Text: ca. 32 Min.

CD 1, Track 4, von Beginn, ab 5:40 langsam ausblenden
Mahler, Sinfonie Nr. 1 4. Satz (Beginn)
Minneapolis Symphony Orchestra
CBS 1940 5:45

Ein Auszug aus der allerersten Aufnahme von Mahlers 1. Sinfonie. Sie entstand weder in Wien noch in New York, den beiden Zentren der Mahler-Tradition, sondern ca. 600 km von Chicago entfernt, in Minneapolis. Dass sie überhaupt entstand – gegen den Willen des Orchestervorstands, der das finanzielle Risiko scheute – ist dem rigenten der Aufnahme zu danken, mitri . Er war von 1937 bis 1949 Chefdirigent des Minneapolis Symphony Orchestra und setzte sich in dieser Zeit immer wieder für das Werk s ein, das damals außerhalb von New York für viele Konzertbesucher noch absolutes Neuland war. Dass die Musik Mahlers in den USA während der 40er und 50er erheblich an Bedeutung und Zuspruch gewann, ist nicht zuletzt dieser Ersteinspielung zu danken, die für viele Hörer den allerersten Zugang zu Mahler darstellte. e Befürchtungen des Orchestervorstandes erwiesen sich übrigens als unbegründet; die Aufnahme verkaufte sich so gut, dass nicht nur die Kosten einspielte, sondern auch einen ordentlichen Profit machte. Und von all den Aufnahmen, die während seiner Zeit in Minneapolis einspielte, ist diese Erste Mahler mit Abstand die bedeutendste, musikalisch wie auch klangtechnisch.

Wer war mitri ? Priest of Music / Priester der Musik lautet der Titel der Biographie von William Trotter. Und das ist weit mehr als nur eine Anspielung darauf, dass der rigent ursprünglich Priester werden wollte, im Kloster „Berg Athos“, wie die beiden Brüder seines Vaters. Nur der Umstand, dafür auf Musik verzichten zu müssen, hielt ihn davon ab. Ein Leben ohne Musik konnte sich nicht vorstellen. Also wurde er Priester am Pult. Oder vielmehr „Missionar der Musik“. So hat sich , dessen größtes Vorbild Franz von Assisi war, immer wieder bezeichnet.

Der Mahler-Märtyrer – das mag in dieser Zuspitzung vielleicht zu plakativ, zu reißerisch klingen. Doch als ich mich in den vergangenen Wochen noch einmal intensiv mit der Vita des rigenten beschäftigte, fand ich den Titel durchaus passend. Bei diversen Episoden, die Trotter in seiner sorgfältig recherchierten Biographie schildert, ging es mir wie bei den Szenen in -Filmen, wo man der verfolgten Unschuld (meist verkörpert durch Joan Fontaine) zurufen möchte: „Jetzt tu doch was, wehre dich, lass dir das nicht gefallen!“ Dass sich oft nicht wehrte, viel Leid auf sich nahm, das er leicht hätte abwehren können, mögen Psychologen als „masochistische Tendenz“ bezeichnen. Für den rigenten dürfte es schlichtweg Ausdruck seines christlichen Glaubens gewesen sein.

Märtyrer (von griechisch martyrion = Zeugnis) sind Menschen, „die um des Bekenntnisses ihres Glaubens willen den Tod erdulden. Als Märtyrer in der weiteren Bedeutung bezeichnet man Personen, die aufgrund einer andersartigen, zum Beispiel politischen Überzeugung Verfolgung und Tod erleiden.“ So steht es in Lexika zu lesen, und wenn man sich die letzten Jahre im Leben von mitri vor Augen hält, scheint diese Definition auf ihn durchaus zuzutreffen – zumindest aus der Perspektive vieler Hörer und Leser von heute. Ob er sich selbst manchmal als „Märtyrer“ empfand, sei dahingestellt. Tatsache ist, dass er alles, was ihm im Leben widerfuhr, aus der Perspektive des gläubigen Christen betrachtete.

Der Agent Maxim Gershunoff, bei dem nach seinem ersten Herzinfarkt im Frühjahr 1953 einige Wochen der Rekonvaleszenz verbrachte, hat berichtet, dass der rigent eine zeitlang mit seinem Schicksal haderte und sich fragte, womit er das verdient habe – wo er doch vielen Menschen, insbesondere jungen Musikern, mit Rat und Tat und Geld geholfen habe. Welche Sünden hatte er auf sich geladen, um derart „bestraft“ zu werden?

Medizinisch gesehen, lassen sich die Ursachen für seinen frühen Tod leicht benennen: Exzessives Rauchen, ungesunde Ernährung und permanente Überarbeitung. Hält man sich aber vor Augen, wie er nach den ersten Alarmzeichen mit seinem Leben umging, so lässt sich der Märtyrer-Aspekt kaum verleugnen: lebte seine Überzeugungen mit tödlicher Konsequenz. Der rigent Paul , der in der Phase der ersten Rekonvaleszenz mit für einige Tage nach Palms Spring fuhr, hat folgende Episode berichtet, die signifikant für die Denkweise des Griechen ist:

An einem herrlichen Morgen sei am Geländer des Balkons gestanden, habe die klare Luft und die Landschaft sichtlich genossen. „Warum verbringen Sie hier nicht Ihre Ferien?“, fragte , „Sie könnten nach dem Ende der Konzert-Saison immer hierher kommen, das Klima wäre ideal für Sie – zumal jetzt!“. Doch schüttelte energisch den Kopf: „Nein! Das hier ist wie im Paradies – und das Paradies ist nicht für mich bestimmt.“

e guten Vorsätze hinsichtlich eines gesünderen Lebens waren schnell wieder dahin. Nicht nur, weil seine Mission, ungeliebter und unbequemer Musik Gehör zu verschaffen, zwangsläufig den permanenten Kampf gegen Vorurteile und starre Hör-Gewohnheiten bedeutete. Sondern auch, weil beim Musizieren an beiden Enden brannte. Er konnte nicht anders, als sich jedes Mal total zu verausgaben. e Vorstellung, er hätte seinen Beruf auch aus einer relaxten, mehr hedonistischen Haltung heraus ausüben können ist ungefähr so abwegig wie eine Platte mit dem Titel: „Musik zum Träumen mit Arturo nini“.

MUSIK: CD 2, Track 1, von Beginn, bei 4:15 langsam ausblenden.
Mahler, Sinfonie Nr. 6
New York Philharmonic Carnegie Hall, 10. April 1955
ca. 5:00

Das New York Philharmonic Orchestra unter mitri mit dem Beginn der 6. Sinfonie von , ein Live-Mitschnitt aus der Carnegie Hall vom 10. April 1955. es war zugleich die amerikanische Rundfunk-Premiere der Sechsten, die erste Aufführung in den USA hatte 1947 dirigiert. Dass die Sinfonien von in den letzten Lebensjahren des rigenten von zentraler Bedeutung waren, dass seine letzte Aufführung Mahlers Dritte in Köln war, und dass er am darauffolgenden Tag während einer Probe zu dem selben Werk an der Mailänder Scala den tödlichen dritten Herzinfarkt erlitt – das alles als puren Zufall zu sehen, dürfte auch denjenigen schwer fallen, die nicht an „Bestimmung“ oder „Karma“ glauben.

Der jüdische Schmerzensmann Mahler und der Märtyrer – zu dieser Kombination hat James Chambers, der langjährige Hornist des New York Philharmonic, folgendes geschrieben: „Möglicherweise war auf dem Podium so etwas wie die Verkörperung des Geistes von . Tatsächlich gab es bei den beiden auffallende Ähnlichkeiten. Beide waren total absorbiert von der Musik und von ihrer Arbeit, und beide hatten wenig Interesse an dem, was viele Künstler als Annehmlichkeiten des Lebens schätzen. Beide waren sehr religiös und suchten nach dem tieferen Sinn des Lebens – und letztlich war ihre Religion die Musik.“

, von dessen besonderer Beziehung zu später noch die Rede sein soll, nannte die Sechste „the most operatic of Mahlers Symphonies“, also die Sinfonie Mahlers mit den stärksten Zügen einer Oper. Und das ist sicher mit ein Grund, warum eine besondere Affinität zur Sechsten hatte. Nicht, dass er eher ein Mann des Theaters war: Bevor er 1950 das New York Philharmonic übernahm, war er nur zwei Jahre am Theater gewesen, nämlich als Korrepetitor und rigent an der Berliner Staatsoper in den Jahren 1922-24. Danach war er fast ausschließlich als Pianist und Konzertdirigent tätig. Wenn er Oper dirigierte, etwa „“ und „Wozzeck“ in New York, dann konzertant. Ein Theater-rigent wurde er erst 1954, als ihn an die Metropolitan Opera holte. Nein, dirigierte das sinfonische Repertoire nicht aus der Perspektive des Opern-rigenten; vielmehr schien das Dramatische seinem Naturell näher zu sein als das Lyrische.

Der Hornist James Chambers berichtete, dass dieser Hang zum Dramatischen vor allem den abrupten Tempo- und Stimmungswechseln zugute gekommen sei, auf die Mahler so großen Wert legte. Bei der Probenarbeit habe unendlich viel Mühe und Zeit verwendet, diese abrupten Wechsel mit größtmöglichem Effekt herauszuarbeiten. Darin sei er der Gegenpol zu Bruno Walter gewesen, der eher den lyrischen Fluß der Musik betont habe.

Machen wir die Probe aufs Exempel und hören wir zwei Versionen vom Finale der 1. Sinfonie mit dem New York Philharmonic. Zuerst in der klassischen Studio-Aufnahme unter Bruno Walter aus dem Jahr 1954 und dann in einem Live-Mitschnitt aus der Carnegie Hall vom 15. Juni 1955.

CD 3, Track 1, ab 8:20 bis Ende
Mahler, Sinfonie Nr. 1, 4. Satz (Ende)
New York Philharmonic, Bruno Walter
, 4:00

CD 4, Track 1, ab 8:00 bis Ende
Mahler, Sinfonie Nr. 1, 4. Satz (Ende)
New York Philharmonic, mitri New York, 15. Juni 1955
Archipel, 4:00

Der Lyriker Walter und der Dramatiker ? Ich finde die Unterschiede hier nicht so drastisch, wie sie oft dargestellt wurden. Viel weiter als bei Mahler gingen die Lesarten der beiden rigenten bei auseinander, vor allem beim „“: dirigierte die Salzburger Aufführung von 1956 in Furtwängler-Nähe – oder besser: in Furtwängler-Gedenken -, also eher symphonisch als theaterhaft-vital, während Bruno Walter das Werk an der Met mit einem Drive und einer Hochspannung sondersgleichen leitete, doch davon wird heute Nachmittag noch ausgiebig die Rede sein…

Übrigens ist es signifikant, was in einem musikalischen Selbstportrait des NDR über Furtwänglers „“-Produktion bei den Salzburger Festspielen sagte:

Ich wollte eine -Aufführung von Furtwängler hören. „Das ist eine Katastrophe“, sagte mir ein berühmter Musiker, „Gehen Sie nur da nicht hin!“ Schließlich gingen wir gemeinsam. Nach dem ersten Akt sagte er: „Es ist zum Kotzen, ich kann das nicht ertragen, ich muß weg. e Tempi sind unerträglich; er lässt die Leute nicht singen, lässt sie nicht atmen!“ Ich war nur begeistert. Ich sagte: „Mein lieber Herr, ich habe jede Minute genossen. Vielleicht könnte ich nicht dasselbe tun, was Furtwängler tut. Aber was ich gehört habe, war ausgezeichnet. e musikalische Kunst ist so abstrakt, dass niemand sagen kann, was recht und unrecht ist!“

mitri war kein Klang-Zauberer wie Leopold und H. Wohl bewunderte er, was für herrliche Klänge aus seinem Philadelphia Orchestra hervorholen konnte, doch seine Klangvorstellung war eine andere. Er wollte seine Zuhörer nicht mit erlesenen Klängen verwöhnen, sondern sie packen, aufrütteln, unter Strom setzen.

Zu dem wenigen, das er mit gemeinsam hatte, gehörte das Auswendig-rigieren. Doch im Gegensatz zu , der beim Studieren verschiedene Partitur-Ausgaben benutze, damit sich ihm das Notenbild nicht optisch einprägte, war es bei so, dass er die Noten beim Lesen quasi „abfotographierte“ und jederzeit abrufbar gespeichert hielt.

In seinem Buch Und dafür wird man noch bezahlt. Mein Leben mit den n hat der Geiger Otto Strasser über folgendes berichtet:

Er probierte ohne Notenvorlage und wusste nicht nur jede Ordnungsziffer anzugeben, sondern auch den Abstand bis zur nächsten Ziffer, so dass er sagen konnte: „Spielen wir sechs Takte nach Ziffer acht, das sind zwölf Takte vor Ziffer neun.“ Obwohl er ein hervorragender Musiker war, lernte er seine Partituren doch eher optisch kennen. Ich glaube, dass er beim rigieren das Notenbild, so wie es sich ihm eingeprägt hatte, im Geist vor sich sah und es einfach ablas. Das haben wir alle gefühlt, und unser Klarinettist Bartosek hat das auf sehr originelle Weise ausgesprochen. Als beim Einstudieren der „“ einmal innehielt und die Hand vor die Augen legte, sagte Bartosek: „Jetzt blättert er um!“

Was in zeitgenössischen Kritiken immer wieder hervorgehoben wurde, war seine eigenartige Zeichengebung. dirigierte mit dem ganzen Körper. Als großes Handicap empfanden viele den „unklaren Schlag“ des rigenten – in Kombination mit seiner Gutmütigkeit wurde ihm das in New York zum Verhängnis. Nach den harten Dressur-Nummern von Arturo nini und Arthur Rodzinksi werteten etliche Musiker seine gutmütige Art als Schwäche. Dass er nicht hart genug durchgriff, ihnen aber gleichzeitig lauter zeitgenössische und schwierige Stücke zumutete, rief bei ihnen niedere Instinkte wach. Manche spielten bewusst schlampig, manche unterhielten sich ungeniert, während sie nicht dran waren, andere wiederum waren von aggressiver Aufsässigkeit.

Und dann gab es noch die große Gruppe derer, die seine Gutmütigkeit schamlos ausnützten. Stellvertretend für alles Üble, was von seinen Musikern jahrelang hinnahm, ist folgende Geschichte:

Nach einer Probe stellte einen Trompeter, der wiederholt durch besonders schlampiges Spiel aufgefallen waren, zur Rede. „Ich bin übermüdet“, lautete die Antwort. „ich muß noch nebenbei einige Jobs beim Rundfunk machen. Von den paar Kröten hier kann ich meine Familie nicht ernähren.“ versprach, ihm die Neben-Einkünfte aus eigener Tasche zu bezahlen, wenn er nur dem New York Philharmonic mit ganzer Kraft zur Verfügung stünde. Der Musiker nahm das Angebot dankend an, jobbte aber weiterhin nebenbei. Und zahlte – bis er eines Tages nach einem Konzert auf die Frau des Trompeters traf, die stolz ihren neuen Nerzmantel vorführte.

e Probenarbeit in New York wurde für immer mehr zum Martyrium. Dass er wiederholt das Pult verließ und in Tränen ausbrach, rührte die tough guys im Orchester wenig, eher schürte es noch ihre Aggression: eser Softie konnte doch nicht ihr Boss sein! Als bei einer besonders unangenehmen Probe meinte, er könne ja einen Herrn aus Cleveland holen, der nur darauf warte, ihnen sziplin beizubringen (er meinte damit den bei Musikern und Sängern besonders gefürchteten George ), war er schon längst auf verlorenem Posten. Ab diesem Zeitpunkt war es mehr oder weniger Glückssache, ob man abends im Konzert das New York Philharmonic hörte oder eine Bande von übelwollenden Rowdies.

Immerhin, wenn es darauf ankam, etwa bei Rundfunkübertragungen oder bei Stücken, die sie „mochten“, ließen sich die Musiker von mitreißen – so zum Beispiel am 16. April 1956, als Mahlers Dritte auf dem Programm stand, zum ersten Mal in New York nach 34 Jahren.

MUSIK CD 5, Track 1, von 21:35 bis Schluß
Mahler, Sinfonie Nr. 3, 1. Satz (Ende)
New York Philharmonic, New York, 15. April 1956
Archipel 3:40

Das Ende des ersten Satzes von Mahlers 3. Sinfonie, ein Live-Mitschnitt vom 15. April 1956. Genau 14 Tage später holte Howard Taubman, der Musikkritiker der New York Times, zu einer Breitseite gegen aus. THE PHILHARMONIC – WHATS WRONG WITH IT AND WHY lautete die Headline seines acht Kolumen langen Artikels. Was stimmte nicht mit dem Orchester und warum? Taubman bemängelte einen stetigen Verlust an Spielkultur und Präzision, einen deutlichen Niedergang des spieltechnischen Standards. Der Klang sei oft rau und hart, die Balance gerate immer wieder aus den Fugen. Zu verantworten habe dies der Chef des Orchesters, mitri . Er sei ein ernsthafter, hingebungsvoller Musiker mit einem Faible für dramatische Musik. Hier könne er eine fast schon fieberhafte Intensität entwickeln, vor allem bei , Mahler, Schönberg und Berg. Zweifellos wäre er sehr wertvoll in der Position des Gastdirigenten für ein bestimmtes Repertoire… Doch von einem Orchester-Chef dürfe man wohl erwarten, dass er , oder mit derselben Hingabe dirigiert, und das sei ja nun mal der zentrale Teil des Konzertrepertoires.

Viele Formulierungen klangen wörtlich nach dem, was ein Geiger des NYP, der aus seiner Abneigung gegen keinen Hehl machte, eifrig verbreitet hatte. Taubmans Artikel schlug ein wie eine Bombe. Wochenlang brachte die New York Times Leserbriefe – etliche, die dem Kritiker zustimmten, aber auch solche, die verteidigten. Dennoch: Mit Taubmans Attacke war quasi über Nacht zur persona non grata geworden. Und wie immer in solchen Fällen, gab es etliche Trittbrettfahrer, die der großen Breitseite noch ein paar Schüsse aus dem Hinterhalt folgen ließen. Merkwürdigerweise stellte sich kaum jemand die Frage, wieso mit dem Orchester der Metropolitan Opera, das deutlich unter dem Standard des New York Philharmonic lag, nicht die geringsten Schwierigkeiten hatte und in der Arbeit so erfolgreich war, dass seine Aufführungen als Highlights im Opernalltag bejubelt wurden, und zwar nicht nur vom Publikum, sondern auch von der Presse.

Erst wenige Monate zuvor hatte er mit s eine Sternstunde geboten, die den New Yorkern noch lange im Gedächtnis bleiben sollte, nicht zuletzt deshalb, weil seine Sänger förmlich unter Strom gesetzt hatte – auch die sonst eher etwas phlegmatische Renata , die aufgrund ihrer sanftmütigen Art von der Presse immer als Gegenstück zur „Furie “ dargestellt wurde. Wer ihre nur von den Studio-Aufnahmen kennt, wird überrascht sein, wie viel Temperament sie unter der Leitung von entwickeln konnte, vor allem in der Mordszene am Ende des Zweiten Aktes.

MUSIK 6, Track 6, von 1:40 an, bei 4:00 langsam ausblenden
, , Ende 2. Akt
Renata , Leonard , Orchester der Metropolitan Opera
New York, 7. Januar 1956
Cetra 1:50

e Mordszene aus mit Renata in der Titelrolle und Leonard als Scarpia, eine Rundfunkübertragung aus der MET vom 7. Januar 1956. Nach der Taubman-Attacke waren die Pressestimmen zu so unberechenbar und erratisch wie das Spiel des New York Philharmonic. Signifikant dafür ist der Vergleich zweier -Aufführungen im Frühjahr 1958. An der Met dirigierte die Wiederaufnahme der , in der Carnegie Hall mehrere konzertante Aufführungen der . In beiden Aufführungen sang Inge die Titelpartie. e -Kritiken waren zurückhaltend bis negativ. CONDUCTOR SLICES SALOME THIN, BUT INGE BORKH GIVES IT MEAT, stand im Daily News zu lesen. Der rigent gibt scheibchenweise, doch Inge liefert das Fleisch. Hingegen wurde die konzertante mit dem New York Philharmonic lauthals bejubelt.

Inge , die ich vor kurzem auf diese beiden Aufführungen ansprach, berichtete mir folgendes:

Ich kannte schon von mehreren „“-Aufführungen in Salzburg und Wien, und ich schätzte ihn sehr – als Musiker wie auch als Menschen. Er war absolut ehrlich und integer, und das war auch mit ein Grund, warum wir uns so gut verstanden. Viele Gespräche, die wir führten, drehten sich um die Erfüllung eines persönlichen Glücks. Er war ein Mensch, der auf der Suche nach dem Glück viel gelitten hat. Er gehörte zu den Vollblutmusikern, die nach einem gelungenen Konzert der Glückseligkeit sehr nahe sind – und dann brüsk in den Alltag zurückgerissen werden. Er blieb allein auf der Suche nach einem Menschen, der den Zustand des Außer-Sich-Seins versteht und mitträgt. Wie sehr konnte dieses Gefühl nachvollziehen! Er war sicher eher mitreißender Musiker als Präzisionsfanatiker. Seine Aufführungen waren einfach aufregend und unwiederholbar. Der Höhepunkt unserer gemeinsamen Arbeit war ohne Zweifel die konzertante „“ in der Carnegie Hall. Da standen wir Sänger ja ganz in seiner Nähe, und diese Hochspannung, die er mit seinen Bewegungen auslöste, übertrug sich auf uns Sänger genauso wie auf die Musiker. Es war ein einziger Sog, in den wir alle gerieten und über uns selbst hinauswuchsen.

MUSIK CD 7, Track 9, von 1:25 bis Ende
, “Schweig und tanze!”
Inge , , New York Philharmonic New York, 8. März 1958 2:30

e Schlussszene der New Yorker vom 8. März 1958. e Intensität dieser Aufführung lässt nachhören, was wenige Monate zuvor Heinrich Kralik in der „Presse“ nach der Wiener geschrieben hatte:

mitri : Wenn er vor Bühne und Orchester steht und mit immer wacher, eindrucksvoller Gebärde den Strom der Musik ordnet und lenkt, erhält man nicht den Einruck einer musikalisch-technischen Funktion. Es ist kein rigieren, kein Kapellmeistern oder Taktschlagen. Es ist viel mehr. Als ob sich durch ihn Idee und Wille des Komponisten direkt und aus eigener, lebendiger Kraft mitteilen. Er ist den Sängern auf der Bühne und den Spielern im Orchesterraum nicht bloß Vermittler dessen, was in der Partitur steht, sondern er ist gleichsam die personifizierte Partitur selbst.

Je beliebter in Europa wurde, desto schwerer hatte er es in New York. Er wusste, dass seine Tage als Chef des New York Philharmonic gezählt waren. Ein halbes Jahr nach der Taubman-Attacke wurde bekannt gegeben, dass sich aufgrund seiner zahlreichen Auslandverpflichtungen und seiner Arbeit an der Metropolitan Opera ab der Spielzeit 1957/58 die Position des Musikalischen Leiters mit teilen würde.

e diversen Rollen von im Leben von mitri hat William Trotter in seiner Biographie auf folgende Formel gebracht: Er war zuerst sein Protegé, viele Jahre später sein Kollege und Rivale und schließlich sein Verräter. Dass der 19jährige nach der ersten Begegnung der beiden (im Januar 1937 nach einem Konzert in Boston) von maßlos fasziniert war, hat er später in einer nur schwach verschleierten fiktiven Schilderung ausführlich dargelegt. Darin bezeichnet er seine Zeit mit (den er „Eros Mavro“ nennt) als die „denkwürdigste und verworrenste Zeit“ seines Lebens, geprägt von einer „tiefen und furchtbaren Zuneigung zu diesem Mann“.

e Zuneigung auf ‚ Seite soll eher platonisch gewesen sein. Laut -Biograph Humphrey Burton war Lenny „nicht sein Typ.“ Doch er hielt Kontakt mit ihm, half ihm, wo er konnte und hatte schon alles in die Wege geleitet, um ihn als seinen Assistenten nach Minneapolis zu holen, bevor der dortige Orchestervorstand diese Pläne zunichte machte. Als sich bereit erklärte, die Chefposition in New York mit zu teilen, dachte er nicht daran, dass Lenny sein Nachfolger werden sollte. Sein Wunschkandidat war Guido Cantelli, doch nachdem dieser bei einem Flugzeugabsturz ums Leben gekommen war, sah seine große Chance gekommen. Und er nutzte sie. Dabei kamen ihm laut Trotter vier entscheidende Faktoren zu Hilfe:

1. der ethnische Faktor: Dass Jude war, öffnete ihm in New York etliche Türen und Geldbörsen, die verschlossen blieben.

2. der Familien-Faktor: stand bei allem Leidensdruck zu seiner Homosexualität – was sicher sein Verhältnis zu manchen Musikern nicht verbesserte, insbesondere dann, wenn er in Interviews sagte, dass gemeinsames Musizieren für ihn ein „Akt der Liebe“ sei. hingegen hatte seine homosexuellen Neigungen erfolgreich verdrängt: Er hatte Weib und Kind und bot somit eine makellose Fassade.

3. der „Omnibus“-Faktor. Mit seiner Fernseh-Serie „Omnibus“ gehörte zu den populärsten Klassik-Musikern überhaupt. Er war telegen, sexy, witzig und geistreich – mit einem Wort: „He was Box Office“.

4. Der „Native Son“-Faktor: Als gebürtiger Amerikaner verkörperte so etwas wie das amerikanische Selbstbewusstsein auf kulturellem Gebiet. Man hatte jetzt einen Star aus eigenen Reihen, war nicht mehr auf Musiker aus Europa angewiesen. Zudem erhofften sich amerikanische Komponisten und Künstler von stärker berücksichtigt zu werden als es bei der Fall war.

Das alles zusammen führte dazu, dass binnen kurzer Zeit „in“ und „out“ war. Und der Ältere ließ sich das Heft aus der Hand nehmen, ohne Widerstand zu leisten. Getreu der Bergpredigt hielt er auch diesmal noch die andere Wange hin.

Wie David amond, ein gemeinsamer Freund von und , später berichtete, habe schon drei Jahre vor dem Machtwechsel auf die Übernahme des NYP spekuliert: „e Musiker finden, dass ‚ Zeit abgelaufen ist“, sagte , „sie nehmen ihm übel, dass er ihnen keine sziplin beibringen kann, dass er ihnen durchgehen lässt, wenn sie wie die Schweine spielen. Alles was ich möchte ist, dieses Orchester zu übernehmen und aufzubauen. Ich glaube nicht, dass sie noch lange mit mitri weiter machen werden.“

Wohlgemerkt, das war zwei Jahre vor der Taubman-Attacke. kompensierte seinen Prestigeverlust mit Arbeit. Er mutete sich ein Pensum zu, dass auch einen gesunden jungen Mann überfordert hätte. Am 29. Januar 1959 erlitt er einen zweiten Herzinfarkt, der ihn ein halbes Jahr zum Pausieren zwang. Da er sein Geld immer mit vollen Händen verschenkt hatte (meist an junge Musiker und Bittsteller) geriet er am Ende seiner Aus-Zeit in finanzielle Not. Obwohl er im Jahr zuvor 100.000 Dollar verdient hatte, konnte er seine Krankenhaus-Rechnungen nicht bezahlen. Optisch um zehn Jahre gealtert und noch immer stark angegriffen, flog er nach Europa. Ob er durfte oder nicht – er musste wieder arbeiten.

In Salzburg dirigierte s „Buch mit den sieben Siegeln“, danach fuhr er nach Köln, für zwei Aufführungen von Mahlers Sechster. Eine davon wurde aufgezeichnet und vor einigen Jahren in der Reihe „Great Conductors of the 20th Century“ veröffentlicht. Ein zentrales Dokument, nicht nur im Schaffen von , sondern in der gesamten Mahler-skographie.

MUSIK: CD 8, Track 4 ab 21:08 bis Ende
Mahler, Sinfonie Nr. 6 Sinfonie-Orchester des Köln, 31. August 1959 IMG CD 8:30

Der Schluß von Mahlers 6. Sinfonie, aufgenommen am 31. August 1959 im Kölner Funkhaus. Wenige Tage später schrieb seiner Jugendfreundin Katy Katsoyannis folgenden Brief:

Meine liebe Katy, was soll ich dir sagen, ich bin bei guter Gesundheit, aber ich bin nicht mehr derselbe. … Ich schaue mir die Leute in meiner Umgebung mit derselben Zuneigung an, aber mit mehr Indifferenz, so als ob ich nicht mehr unten ihnen wäre und sie von einer anderen Welt aus betrachten würde. Das beängstigt mich manchmal. Ich habe keine Gewissheit, ob ich noch am Leben bin oder noch lange leben werde. Es ist, als würde ich mein Ende erwarten. Ich hoffe nur, dass dieses Gefühl mit der Zeit wieder verschwindet. Und ich fürchte mich davor, wieder diese schreckliche Atmosphäre von Ärzten und Krankenschwestern erleben zu müssen.

Im Dezember 1959 und Januar 1960 teilten sich und die Konzerte des Mahler-Festivals beim New York Philharmonic. dirigierte die Erste, die Fünfte, die Zwei-Sätze-Version der Zehnten und abschließend die Neunte.

Mahlers gewaltigstes Werk, die Achte, dirigierte er erstmals Ende August 1960 bei den Salzburger Festspielen. Otto Strasser, damals Vorstand der , hat von der Probe folgendes berichtet:

ese „Sinfonie der Tausend“ wurde in der Felsenreitschule aufgeführt, und schon die Aufstellung der Riesenchöre, der Sängerknaben und der vielen Solisten wurde zum Problem. Hinzu kam, dass erkrankte und mit einer Absage drohte und außerdem durch die Aufstellung und das Riesenaufgebot alles anders klang, als es sich vorgestellt hat. Er verlor die Herrschaft über seine Nerven, stieg vom Pult, vergrub den Kopf in den Händen und begann zu schluchzen. Jemand kam auf die Idee, das rigentenpodium radikal zu erhöhen, und damit waren alle Probleme gelöst. Nun stimmte die akustische Balance für . Er hörte, was er erwartet hatte, war zufrieden und dirigierte eine grandiose Aufführung.

MUSIK: CD 9, Track 1, von 20:50 bis Ende
Mahler, Sinfonie Nr. 8 1. Teil: Hymnus – Gloria
Coertse, , West, Malaniuk, Zampieri, Prey, , nchor, Wiener Singverein, Wiener Sängerknaben
Salzburg, 28. August 1960
CD 3’05

Hören wir zum direkten Vergleich die erste Aufnahme von , die sechs Jahre später in entstand.

MUSIK: CD 10, Track 13
Mahler, Sinfonie Nr. 8 1. Teil, Hymnus: „Gloria“
Spoorenberg, Jones, Annear, Reynolds, Procter, Mitchinson, Ruzdjak, McIntyre, Leeds Festival Chorus, Symphony Chorus, Orpington Junior Singers, Highgate schoolboys Choir, Finchley’s Children Music Group, Symphony Orchestra,

CBS 1966 2’05

Um nicht missverstanden zu werden: Es geht hier nicht darum, einen rigenten auf Kosten eines anderen auf den Sockel zu heben. Sondern darum aufzuzeigen, wie schnell der Ruhm eines großen Interpreten verblasst, wenn er nicht angemessen auf Platten dokumentiert ist. Dass nach seinem Tod so schnell in Vergessenheit geriet, liegt sicher zum großen Teil daran, dass die meisten seiner Studio-Aufnahmen nur ein begrenztes Bild von seiner Größe vermitteln. Und leider waren Live-Mitschnitte auf Platten damals noch die Ausnahme – oder es gab sie nur rabenschwarz unterm Ladentisch. ese Achte aus Salzburg zum Beispiel kursierte jahrelang nur in minderwertigen Pressungen mit heftigen Verzerrungen. Erst die legale Veröffentlichung in der Reihe „Salzburger Festspiel-Dokumente“ lässt ahnen, wie aufregend die Aufführung gewesen sein muss.

K.H. Ruppel, damals einer der führenden deutschen Kritiker, sprach von einem dirigentischen Gestaltungswillen, dem es nicht um die Entladung der Klangmassen ging (mit der sich die „Achte“ auf die billigste Art und Weise „imposant“ machen lässt), sondern um die Verwirklichung dessen, was man treffend Mahlers „Klangraumempfinden“ genannt hat – genau dessen also, was den inneren Zusammenhang der 1906 komponierten Symphonie, die eigentlich eine symphonische Kantante ist, mit der Musik der Gegenwart dokumentiert.

„Von ganz verschiedenen Seiten her müssen die Themen kommen und völlig verschieden sein in Rhythmik und Melodik“: Scheint dieser Satz Mahlers nicht schon die Klangraumstruktur jüngster stereophonischer Partituren von Berio, Pousseur, Boulez und anderen vorauszunehmen? War die Aufführung unter nichts anderes als die klingende Exegese dieses Satzes, nicht ein Beweis für die (so oft geleugnete) Kontinuität in der Entwicklung der Musik unseres Jahrhunderts von seinem Anfang hinaus über seine Mitte? … Und wie man in dieser Wiedergabe der „Achten“ spürt, was Mahler mit den nachfolgenden Generationen verbindet, so erkennt man auch klar, wie ihn sein geistiges und humanistisches Pathos in die Nachfolge s stellt.

MUSIK: CD 11, Track 9, Applaus etwas stehen lassen, dann ausblenden Mahler, Sinfonie Nr. 8 2. Teil, Schluß-Szene aus Goethes „“: „Alles Vergängliche..“
Coertse, , West, Malaniuk, Zampieri, Prey, , nchor, Wiener Singverein, Wiener Sängerknaben
Salzburg, 28. August 1960
CD 6:30

Nach dieser Achten ging für fünf Wochen nach Wien. In der Staatsoper dirigierte er eine Neuproduktion von s Macht des Schicksals, in der sämtliche Beteiligten mit einer Besessenheit sangen und musizierten, als sei dies ihre letzte Aufführung. Für war es das tatsächlich. Stand am Ende seiner Bühnenlaufbahn, so war es im Konzert . Am 2. Oktober 1960 leitete er im Großen Wiener Musikvereinssaal eine Aufführung von Mahlers Neunter, am 31. Oktober dirigierte er im Funkhaus des Köln sein letztes Konzert, Mahlers Dritte.

In der Pause war sein Gesundheitszustand derart alarmierend, dass das Aufnahmeteam des dem rigenten nahe legte, die zweite Hälfte abzusagen. Doch machte weiter. Nach der Aufführung verbeugte er sich kurz, und bevor ihn irgend jemand daran hindern konnte, nahm er rasch seinen Koffer, setzte sich ins Taxi und fuhr zum Bahnhof. Am nächsten Morgen war er in Mailand. Hier sollte er nochmals Mahlers Dritte dirigieren. Beim Frühstück in einem Kaffeehaus traf er auf den ersten Oboisten des Orchesters. Der Musiker registrierte sofort, dass in äußerst schlechter Verfassung war: Er war kreidebleich und hatte Mühe mit dem Atemholen.

Um zehn begann die Probe in der Scala. wurde vom Orchester mit Beifall begrüßt. Als er die besorgten Gesichter der Musiker sah, meinte er: „Ja, es ist wahr, ich bin erschöpft. Aber ich bin wie ein altes Auto, bei dem schon einige Teile verschlissen sind, das aber immer noch fährt.“ Vor Takt 80, dem großen Auftritt der Posaunen, hielt plötzlich inne und setzte sich zurück auf seinen Hochsitz. Sein Gesicht erstarrte, sein Körper neigte sich nach vorn, und wie eine Statue, die vom Podest fällt, stürzte er in den Orchestergraben. Als die Ärzte eintrafen, war noch ein schwacher Puls zu spüren, doch als der Rettungswagen die Polyklinik erreicht hatte, war tot.