Elektra on records: Opernwelt 8.1996
Vortrag bei den Gustav Mahler Musikwochen in Toblach, 2006
Autor: Thomas Voigt
Musik: ca. 58 Min.
Text: ca. 32 Min.
CD 1, Track 4, von Beginn, ab 5:40 langsam ausblenden
Mahler, Sinfonie Nr. 1 4. Satz (Beginn)
Minneapolis Symphony Orchestra
CBS 1940 5:45
Ein Auszug aus der allerersten Aufnahme von Mahlers 1. Sinfonie. Sie entstand weder in Wien noch in New York, den beiden Zentren der Mahler-Tradition, sondern ca. 600 km von Chicago entfernt, in Minneapolis. Dass sie überhaupt entstand – gegen den Willen des Orchestervorstands, der das finanzielle Risiko scheute – ist dem Dirigenten der Aufnahme zu danken, Dimitri Mitropoulos. Er war von 1937 bis 1949 Chefdirigent des Minneapolis Symphony Orchestra und setzte sich in dieser Zeit immer wieder für das Werk Gustav Mahlers ein, das damals außerhalb von New York für viele Konzertbesucher noch absolutes Neuland war. Dass die Musik Mahlers in den USA während der 40er und 50er erheblich an Bedeutung und Zuspruch gewann, ist nicht zuletzt dieser Ersteinspielung zu danken, die für viele Hörer den allerersten Zugang zu Mahler darstellte. Die Befürchtungen des Orchestervorstandes erwiesen sich übrigens als unbegründet; die Aufnahme verkaufte sich so gut, dass Columbia nicht nur die Kosten einspielte, sondern auch einen ordentlichen Profit machte. Und von all den Aufnahmen, die Mitropoulos während seiner Zeit in Minneapolis einspielte, ist diese Erste Mahler mit Abstand die bedeutendste, musikalisch wie auch klangtechnisch.
Wer war Dimitri Mitropoulos? Priest of Music / Priester der Musik lautet der Titel der Biographie von William Trotter. Und das ist weit mehr als nur eine Anspielung darauf, dass der Dirigent ursprünglich Priester werden wollte, im Kloster „Berg Athos“, wie die beiden Brüder seines Vaters. Nur der Umstand, dafür auf Musik verzichten zu müssen, hielt ihn davon ab. Ein Leben ohne Musik konnte sich Mitropoulos nicht vorstellen. Also wurde er Priester am Pult. Oder vielmehr „Missionar der Musik“. So hat sich Mitropoulos, dessen größtes Vorbild Franz von Assisi war, immer wieder bezeichnet.
Der Mahler-Märtyrer Mitropoulos – das mag in dieser Zuspitzung vielleicht zu plakativ, zu reißerisch klingen. Doch als ich mich in den vergangenen Wochen noch einmal intensiv mit der Vita des Dirigenten beschäftigte, fand ich den Titel durchaus passend. Bei diversen Episoden, die Trotter in seiner sorgfältig recherchierten Biographie schildert, ging es mir wie bei den Szenen in Hitchcock-Filmen, wo man der verfolgten Unschuld (meist verkörpert durch Joan Fontaine) zurufen möchte: „Jetzt tu doch was, wehre dich, lass dir das nicht gefallen!“ Dass sich Mitropoulos oft nicht wehrte, viel Leid auf sich nahm, das er leicht hätte abwehren können, mögen Psychologen als „masochistische Tendenz“ bezeichnen. Für den Dirigenten dürfte es schlichtweg Ausdruck seines christlichen Glaubens gewesen sein.
Märtyrer (von griechisch martyrion = Zeugnis) sind Menschen, „die um des Bekenntnisses ihres Glaubens willen den Tod erdulden. Als Märtyrer in der weiteren Bedeutung bezeichnet man Personen, die aufgrund einer andersartigen, zum Beispiel politischen Überzeugung Verfolgung und Tod erleiden.“ So steht es in Lexika zu lesen, und wenn man sich die letzten Jahre im Leben von Dimitri Mitropoulos vor Augen hält, scheint diese Definition auf ihn durchaus zuzutreffen – zumindest aus der Perspektive vieler Hörer und Leser von heute. Ob er sich selbst manchmal als „Märtyrer“ empfand, sei dahingestellt. Tatsache ist, dass er alles, was ihm im Leben widerfuhr, aus der Perspektive des gläubigen Christen betrachtete.
Der Agent Maxim Gershunoff, bei dem Mitropoulos nach seinem ersten Herzinfarkt im Frühjahr 1953 einige Wochen der Rekonvaleszenz verbrachte, hat berichtet, dass der Dirigent eine zeitlang mit seinem Schicksal haderte und sich fragte, womit er das verdient habe – wo er doch vielen Menschen, insbesondere jungen Musikern, mit Rat und Tat und Geld geholfen habe. Welche Sünden hatte er auf sich geladen, um derart „bestraft“ zu werden?
Medizinisch gesehen, lassen sich die Ursachen für seinen frühen Tod leicht benennen: Exzessives Rauchen, ungesunde Ernährung und permanente Überarbeitung. Hält man sich aber vor Augen, wie er nach den ersten Alarmzeichen mit seinem Leben umging, so lässt sich der Märtyrer-Aspekt kaum verleugnen: Mitropoulos lebte seine Überzeugungen mit tödlicher Konsequenz. Der Dirigent Paul Strauss, der in der Phase der ersten Rekonvaleszenz mit Mitropoulos für einige Tage nach Palms Spring fuhr, hat folgende Episode berichtet, die signifikant für die Denkweise des Griechen ist:
An einem herrlichen Morgen sei Mitropoulos am Geländer des Balkons gestanden, habe die klare Luft und die Landschaft sichtlich genossen. „Warum verbringen Sie hier nicht Ihre Ferien?“, fragte Strauss, „Sie könnten nach dem Ende der Konzert-Saison immer hierher kommen, das Klima wäre ideal für Sie – zumal jetzt!“. Doch Mitropoulos schüttelte energisch den Kopf: „Nein! Das hier ist wie im Paradies – und das Paradies ist nicht für mich bestimmt.“
Die guten Vorsätze hinsichtlich eines gesünderen Lebens waren schnell wieder dahin. Nicht nur, weil seine Mission, ungeliebter und unbequemer Musik Gehör zu verschaffen, zwangsläufig den permanenten Kampf gegen Vorurteile und starre Hör-Gewohnheiten bedeutete. Sondern auch, weil Mitropoulos beim Musizieren an beiden Enden brannte. Er konnte nicht anders, als sich jedes Mal total zu verausgaben. Die Vorstellung, er hätte seinen Beruf auch aus einer relaxten, mehr hedonistischen Haltung heraus ausüben können ist ungefähr so abwegig wie eine Platte mit dem Titel: „Musik zum Träumen mit Arturo Toscanini“.
MUSIK: CD 2, Track 1, von Beginn, bei 4:15 langsam ausblenden.
Mahler, Sinfonie Nr. 6
New York Philharmonic Carnegie Hall, 10. April 1955
ca. 5:00
Das New York Philharmonic Orchestra unter Dimitri Mitropoulos mit dem Beginn der 6. Sinfonie von Gustav Mahler, ein Live-Mitschnitt aus der Carnegie Hall vom 10. April 1955. Dies war zugleich die amerikanische Rundfunk-Premiere der Sechsten, die erste Aufführung in den USA hatte Mitropoulos 1947 dirigiert. Dass die Sinfonien von Gustav Mahler in den letzten Lebensjahren des Dirigenten von zentraler Bedeutung waren, dass seine letzte Aufführung Mahlers Dritte in Köln war, und dass er am darauffolgenden Tag während einer Probe zu dem selben Werk an der Mailänder Scala den tödlichen dritten Herzinfarkt erlitt – das alles als puren Zufall zu sehen, dürfte auch denjenigen schwer fallen, die nicht an „Bestimmung“ oder „Karma“ glauben.
Der jüdische Schmerzensmann Mahler und der Märtyrer Mitropoulos – zu dieser Kombination hat James Chambers, der langjährige Hornist des New York Philharmonic, folgendes geschrieben: „Möglicherweise war Mitropoulos auf dem Podium so etwas wie die Verkörperung des Geistes von Gustav Mahler. Tatsächlich gab es bei den beiden auffallende Ähnlichkeiten. Beide waren total absorbiert von der Musik und von ihrer Arbeit, und beide hatten wenig Interesse an dem, was viele Künstler als Annehmlichkeiten des Lebens schätzen. Beide waren sehr religiös und suchten nach dem tieferen Sinn des Lebens – und letztlich war ihre Religion die Musik.“
Leonard Bernstein, von dessen besonderer Beziehung zu Mitropoulos später noch die Rede sein soll, nannte die Sechste „the most operatic of Mahlers Symphonies“, also die Sinfonie Mahlers mit den stärksten Zügen einer Oper. Und das ist sicher mit ein Grund, warum Mitropoulos eine besondere Affinität zur Sechsten hatte. Nicht, dass er eher ein Mann des Theaters war: Bevor er 1950 das New York Philharmonic übernahm, war er nur zwei Jahre am Theater gewesen, nämlich als Korrepetitor und Dirigent an der Berliner Staatsoper in den Jahren 1922-24. Danach war er fast ausschließlich als Pianist und Konzertdirigent tätig. Wenn er Oper dirigierte, etwa „Elektra“ und „Wozzeck“ in New York, dann konzertant. Ein Theater-Dirigent wurde er erst 1954, als Rudolf Bing ihn an die Metropolitan Opera holte. Nein, Mitropoulos dirigierte das sinfonische Repertoire nicht aus der Perspektive des Opern-Dirigenten; vielmehr schien das Dramatische seinem Naturell näher zu sein als das Lyrische.
Der Hornist James Chambers berichtete, dass dieser Hang zum Dramatischen vor allem den abrupten Tempo- und Stimmungswechseln zugute gekommen sei, auf die Mahler so großen Wert legte. Bei der Probenarbeit habe Mitropoulos unendlich viel Mühe und Zeit verwendet, diese abrupten Wechsel mit größtmöglichem Effekt herauszuarbeiten. Darin sei er der Gegenpol zu Bruno Walter gewesen, der eher den lyrischen Fluß der Musik betont habe.
Machen wir die Probe aufs Exempel und hören wir zwei Versionen vom Finale der 1. Sinfonie mit dem New York Philharmonic. Zuerst in der klassischen Studio-Aufnahme unter Bruno Walter aus dem Jahr 1954 und dann in einem Live-Mitschnitt aus der Carnegie Hall vom 15. Juni 1955.
CD 3, Track 1, ab 8:20 bis Ende
Mahler, Sinfonie Nr. 1, 4. Satz (Ende)
New York Philharmonic, Bruno Walter
Columbia, 4:00
CD 4, Track 1, ab 8:00 bis Ende
Mahler, Sinfonie Nr. 1, 4. Satz (Ende)
New York Philharmonic, Dimitri Mitropoulos New York, 15. Juni 1955
Archipel, 4:00
Der Lyriker Walter und der Dramatiker Mitropoulos? Ich finde die Unterschiede hier nicht so drastisch, wie sie oft dargestellt wurden. Viel weiter als bei Mahler gingen die Lesarten der beiden Dirigenten bei Mozart auseinander, vor allem beim „Don Giovanni“: Mitropoulos dirigierte die Salzburger Aufführung von 1956 in Furtwängler-Nähe – oder besser: in Furtwängler-Gedenken -, also eher symphonisch als theaterhaft-vital, während Bruno Walter das Werk an der Met mit einem Drive und einer Hochspannung sondersgleichen leitete, doch davon wird heute Nachmittag noch ausgiebig die Rede sein…
Übrigens ist es signifikant, was Mitropoulos in einem musikalischen Selbstportrait des NDR über Furtwänglers „Don Giovanni“-Produktion bei den Salzburger Festspielen sagte:
Ich wollte eine Don Giovanni-Aufführung von Furtwängler hören. „Das ist eine Katastrophe“, sagte mir ein berühmter Musiker, „Gehen Sie nur da nicht hin!“ Schließlich gingen wir gemeinsam. Nach dem ersten Akt sagte er: „Es ist zum Kotzen, ich kann das nicht ertragen, ich muß weg. Die Tempi sind unerträglich; er lässt die Leute nicht singen, lässt sie nicht atmen!“ Ich war nur begeistert. Ich sagte: „Mein lieber Herr, ich habe jede Minute genossen. Vielleicht könnte ich nicht dasselbe tun, was Furtwängler tut. Aber was ich gehört habe, war ausgezeichnet. Die musikalische Kunst ist so abstrakt, dass niemand sagen kann, was recht und unrecht ist!“
Dimitri Mitropoulos war kein Klang-Zauberer wie Leopold Stokowski und Herbert von Karajan. Wohl bewunderte er, was für herrliche Klänge Stokowski aus seinem Philadelphia Orchestra hervorholen konnte, doch seine Klangvorstellung war eine andere. Er wollte seine Zuhörer nicht mit erlesenen Klängen verwöhnen, sondern sie packen, aufrütteln, unter Strom setzen.
Zu dem wenigen, das er mit Karajan gemeinsam hatte, gehörte das Auswendig-Dirigieren. Doch im Gegensatz zu Karajan, der beim Studieren verschiedene Partitur-Ausgaben benutze, damit sich ihm das Notenbild nicht optisch einprägte, war es bei Mitropoulos so, dass er die Noten beim Lesen quasi „abfotographierte“ und jederzeit abrufbar gespeichert hielt.
In seinem Buch Und dafür wird man noch bezahlt. Mein Leben mit den Wiener Philharmonikern hat der Geiger Otto Strasser über Mitropoulos folgendes berichtet:
Er probierte ohne Notenvorlage und wusste nicht nur jede Ordnungsziffer anzugeben, sondern auch den Abstand bis zur nächsten Ziffer, so dass er sagen konnte: „Spielen wir sechs Takte nach Ziffer acht, das sind zwölf Takte vor Ziffer neun.“ Obwohl er ein hervorragender Musiker war, lernte er seine Partituren doch eher optisch kennen. Ich glaube, dass er beim Dirigieren das Notenbild, so wie es sich ihm eingeprägt hatte, im Geist vor sich sah und es einfach ablas. Das haben wir alle gefühlt, und unser Klarinettist Bartosek hat das auf sehr originelle Weise ausgesprochen. Als Mitropoulos beim Einstudieren der „Elektra“ einmal innehielt und die Hand vor die Augen legte, sagte Bartosek: „Jetzt blättert er um!“
Was in zeitgenössischen Kritiken immer wieder hervorgehoben wurde, war seine eigenartige Zeichengebung. Mitropoulos dirigierte mit dem ganzen Körper. Als großes Handicap empfanden viele den „unklaren Schlag“ des Dirigenten – in Kombination mit seiner Gutmütigkeit wurde ihm das in New York zum Verhängnis. Nach den harten Dressur-Nummern von Arturo Toscanini und Arthur Rodzinksi werteten etliche Musiker seine gutmütige Art als Schwäche. Dass er nicht hart genug durchgriff, ihnen aber gleichzeitig lauter zeitgenössische und schwierige Stücke zumutete, rief bei ihnen niedere Instinkte wach. Manche spielten bewusst schlampig, manche unterhielten sich ungeniert, während sie nicht dran waren, andere wiederum waren von aggressiver Aufsässigkeit.
Und dann gab es noch die große Gruppe derer, die seine Gutmütigkeit schamlos ausnützten. Stellvertretend für alles Üble, was Mitropoulos von seinen Musikern jahrelang hinnahm, ist folgende Geschichte:
Nach einer Probe stellte Mitropoulos einen Trompeter, der wiederholt durch besonders schlampiges Spiel aufgefallen waren, zur Rede. „Ich bin übermüdet“, lautete die Antwort. „ich muß noch nebenbei einige Jobs beim Rundfunk machen. Von den paar Kröten hier kann ich meine Familie nicht ernähren.“ Mitropoulos versprach, ihm die Neben-Einkünfte aus eigener Tasche zu bezahlen, wenn er nur dem New York Philharmonic mit ganzer Kraft zur Verfügung stünde. Der Musiker nahm das Angebot dankend an, jobbte aber weiterhin nebenbei. Und Mitropoulos zahlte – bis er eines Tages nach einem Konzert auf die Frau des Trompeters traf, die stolz ihren neuen Nerzmantel vorführte.
Die Probenarbeit in New York wurde für Mitropoulos immer mehr zum Martyrium. Dass er wiederholt das Pult verließ und in Tränen ausbrach, rührte die tough guys im Orchester wenig, eher schürte es noch ihre Aggression: Dieser Softie konnte doch nicht ihr Boss sein! Als Mitropoulos bei einer besonders unangenehmen Probe meinte, er könne ja einen Herrn aus Cleveland holen, der nur darauf warte, ihnen Disziplin beizubringen (er meinte damit den bei Musikern und Sängern besonders gefürchteten George Szell), war er schon längst auf verlorenem Posten. Ab diesem Zeitpunkt war es mehr oder weniger Glückssache, ob man abends im Konzert das New York Philharmonic hörte oder eine Bande von übelwollenden Rowdies.
Immerhin, wenn es darauf ankam, etwa bei Rundfunkübertragungen oder bei Stücken, die sie „mochten“, ließen sich die Musiker von Mitropoulos mitreißen – so zum Beispiel am 16. April 1956, als Mahlers Dritte auf dem Programm stand, zum ersten Mal in New York nach 34 Jahren.
MUSIK CD 5, Track 1, von 21:35 bis Schluß
Mahler, Sinfonie Nr. 3, 1. Satz (Ende)
New York Philharmonic, New York, 15. April 1956
Archipel 3:40
Das Ende des ersten Satzes von Mahlers 3. Sinfonie, ein Live-Mitschnitt vom 15. April 1956. Genau 14 Tage später holte Howard Taubman, der Musikkritiker der New York Times, zu einer Breitseite gegen Mitropoulos aus. THE PHILHARMONIC – WHATS WRONG WITH IT AND WHY lautete die Headline seines acht Kolumen langen Artikels. Was stimmte nicht mit dem Orchester und warum? Taubman bemängelte einen stetigen Verlust an Spielkultur und Präzision, einen deutlichen Niedergang des spieltechnischen Standards. Der Klang sei oft rau und hart, die Balance gerate immer wieder aus den Fugen. Zu verantworten habe dies der Chef des Orchesters, Dimitri Mitropoulos. Er sei ein ernsthafter, hingebungsvoller Musiker mit einem Faible für dramatische Musik. Hier könne er eine fast schon fieberhafte Intensität entwickeln, vor allem bei Strauss, Mahler, Schönberg und Berg. Zweifellos wäre er sehr wertvoll in der Position des Gastdirigenten für ein bestimmtes Repertoire… Doch von einem Orchester-Chef dürfe man wohl erwarten, dass er Mozart, Beethoven oder Brahms mit derselben Hingabe dirigiert, und das sei ja nun mal der zentrale Teil des Konzertrepertoires.
Viele Formulierungen klangen wörtlich nach dem, was ein Geiger des NYP, der aus seiner Abneigung gegen Mitropoulos keinen Hehl machte, eifrig verbreitet hatte. Taubmans Artikel schlug ein wie eine Bombe. Wochenlang brachte die New York Times Leserbriefe – etliche, die dem Kritiker zustimmten, aber auch solche, die Mitropoulos verteidigten. Dennoch: Mit Taubmans Attacke war Mitropoulos quasi über Nacht zur persona non grata geworden. Und wie immer in solchen Fällen, gab es etliche Trittbrettfahrer, die der großen Breitseite noch ein paar Schüsse aus dem Hinterhalt folgen ließen. Merkwürdigerweise stellte sich kaum jemand die Frage, wieso Mitropoulos mit dem Orchester der Metropolitan Opera, das deutlich unter dem Standard des New York Philharmonic lag, nicht die geringsten Schwierigkeiten hatte und in der Arbeit so erfolgreich war, dass seine Aufführungen als Highlights im Opernalltag bejubelt wurden, und zwar nicht nur vom Publikum, sondern auch von der Presse.
Erst wenige Monate zuvor hatte er mit Puccinis Tosca eine Sternstunde geboten, die den New Yorkern noch lange im Gedächtnis bleiben sollte, nicht zuletzt deshalb, weil Mitropoulos seine Sänger förmlich unter Strom gesetzt hatte – auch die sonst eher etwas phlegmatische Renata Tebaldi, die aufgrund ihrer sanftmütigen Art von der Presse immer als Gegenstück zur „Furie Callas“ dargestellt wurde. Wer ihre Tosca nur von den Studio-Aufnahmen kennt, wird überrascht sein, wie viel Temperament sie unter der Leitung von Mitropoulos entwickeln konnte, vor allem in der Mordszene am Ende des Zweiten Aktes.
MUSIK 6, Track 6, von 1:40 an, bei 4:00 langsam ausblenden
Puccini, Tosca, Ende 2. Akt
Renata Tebaldi, Leonard Warren, Orchester der Metropolitan Opera
New York, 7. Januar 1956
Cetra 1:50
Die Mordszene aus Tosca mit Renata Tebaldi in der Titelrolle und Leonard Warren als Scarpia, eine Rundfunkübertragung aus der MET vom 7. Januar 1956. Nach der Taubman-Attacke waren die Pressestimmen zu Mitropoulos so unberechenbar und erratisch wie das Spiel des New York Philharmonic. Signifikant dafür ist der Vergleich zweier Strauss-Aufführungen im Frühjahr 1958. An der Met dirigierte Mitropoulos die Wiederaufnahme der Salome, in der Carnegie Hall mehrere konzertante Aufführungen der Elektra. In beiden Aufführungen sang Inge Borkh die Titelpartie. Die Salome-Kritiken waren zurückhaltend bis negativ. CONDUCTOR SLICES SALOME THIN, BUT INGE BORKH GIVES IT MEAT, stand im Daily News zu lesen. Der Dirigent gibt Salome scheibchenweise, doch Inge Borkh liefert das Fleisch. Hingegen wurde die konzertante Elektra mit dem New York Philharmonic lauthals bejubelt.
Inge Borkh, die ich vor kurzem auf diese beiden Aufführungen ansprach, berichtete mir folgendes:
Ich kannte Mitropoulos schon von mehreren „Elektra“-Aufführungen in Salzburg und Wien, und ich schätzte ihn sehr – als Musiker wie auch als Menschen. Er war absolut ehrlich und integer, und das war auch mit ein Grund, warum wir uns so gut verstanden. Viele Gespräche, die wir führten, drehten sich um die Erfüllung eines persönlichen Glücks. Er war ein Mensch, der auf der Suche nach dem Glück viel gelitten hat. Er gehörte zu den Vollblutmusikern, die nach einem gelungenen Konzert der Glückseligkeit sehr nahe sind – und dann brüsk in den Alltag zurückgerissen werden. Er blieb allein auf der Suche nach einem Menschen, der den Zustand des Außer-Sich-Seins versteht und mitträgt. Wie sehr konnte dieses Gefühl nachvollziehen! Er war sicher eher mitreißender Musiker als Präzisionsfanatiker. Seine Aufführungen waren einfach aufregend und unwiederholbar. Der Höhepunkt unserer gemeinsamen Arbeit war ohne Zweifel die konzertante „Elektra“ in der Carnegie Hall. Da standen wir Sänger ja ganz in seiner Nähe, und diese Hochspannung, die er mit seinen Bewegungen auslöste, übertrug sich auf uns Sänger genauso wie auf die Musiker. Es war ein einziger Sog, in den wir alle gerieten und über uns selbst hinauswuchsen.
MUSIK CD 7, Track 9, von 1:25 bis Ende
Strauss, Elektra “Schweig und tanze!”
Inge Borkh, Frances Yeend, New York Philharmonic New York, 8. März 1958 2:30
Die Schlussszene der New Yorker Elektra vom 8. März 1958. Die Intensität dieser Aufführung lässt nachhören, was wenige Monate zuvor Heinrich Kralik in der „Presse“ nach der Wiener Elektra geschrieben hatte:
Dimitri Mitropoulos: Wenn er vor Bühne und Orchester steht und mit immer wacher, eindrucksvoller Gebärde den Strom der Musik ordnet und lenkt, erhält man nicht den Einruck einer musikalisch-technischen Funktion. Es ist kein Dirigieren, kein Kapellmeistern oder Taktschlagen. Es ist viel mehr. Als ob sich durch ihn Idee und Wille des Komponisten direkt und aus eigener, lebendiger Kraft mitteilen. Er ist den Sängern auf der Bühne und den Spielern im Orchesterraum nicht bloß Vermittler dessen, was in der Partitur steht, sondern er ist gleichsam die personifizierte Partitur selbst.
Je beliebter Mitropoulos in Europa wurde, desto schwerer hatte er es in New York. Er wusste, dass seine Tage als Chef des New York Philharmonic gezählt waren. Ein halbes Jahr nach der Taubman-Attacke wurde bekannt gegeben, dass sich Mitropoulos aufgrund seiner zahlreichen Auslandverpflichtungen und seiner Arbeit an der Metropolitan Opera ab der Spielzeit 1957/58 die Position des Musikalischen Leiters mit Leonard Bernstein teilen würde.
Die diversen Rollen von Leonard Bernstein im Leben von Dimitri Mitropoulos hat William Trotter in seiner Biographie auf folgende Formel gebracht: Er war zuerst sein Protegé, viele Jahre später sein Kollege und Rivale und schließlich sein Verräter. Dass der 19jährige Bernstein nach der ersten Begegnung der beiden (im Januar 1937 nach einem Konzert in Boston) von Mitropoulos maßlos fasziniert war, hat er später in einer nur schwach verschleierten fiktiven Schilderung ausführlich dargelegt. Darin bezeichnet er seine Zeit mit Mitropoulos (den er „Eros Mavro“ nennt) als die „denkwürdigste und verworrenste Zeit“ seines Lebens, geprägt von einer „tiefen und furchtbaren Zuneigung zu diesem Mann“.
Die Zuneigung auf Mitropoulos‚ Seite soll eher platonisch gewesen sein. Laut Bernstein-Biograph Humphrey Burton war Lenny „nicht sein Typ.“ Doch er hielt Kontakt mit ihm, half ihm, wo er konnte und hatte schon alles in die Wege geleitet, um ihn als seinen Assistenten nach Minneapolis zu holen, bevor der dortige Orchestervorstand diese Pläne zunichte machte. Als sich Mitropoulos bereit erklärte, die Chefposition in New York mit Bernstein zu teilen, dachte er nicht daran, dass Lenny sein Nachfolger werden sollte. Sein Wunschkandidat war Guido Cantelli, doch nachdem dieser bei einem Flugzeugabsturz ums Leben gekommen war, sah Bernstein seine große Chance gekommen. Und er nutzte sie. Dabei kamen ihm laut Trotter vier entscheidende Faktoren zu Hilfe:
1. der ethnische Faktor: Dass Bernstein Jude war, öffnete ihm in New York etliche Türen und Geldbörsen, die Mitropoulos verschlossen blieben.
2. der Familien-Faktor: Mitropoulos stand bei allem Leidensdruck zu seiner Homosexualität – was sicher sein Verhältnis zu manchen Musikern nicht verbesserte, insbesondere dann, wenn er in Interviews sagte, dass gemeinsames Musizieren für ihn ein „Akt der Liebe“ sei. Bernstein hingegen hatte seine homosexuellen Neigungen erfolgreich verdrängt: Er hatte Weib und Kind und bot somit eine makellose Fassade.
3. der „Omnibus“-Faktor. Mit seiner Fernseh-Serie „Omnibus“ gehörte Bernstein zu den populärsten Klassik-Musikern überhaupt. Er war telegen, sexy, witzig und geistreich – mit einem Wort: „He was Box Office“.
4. Der „Native Son“-Faktor: Als gebürtiger Amerikaner verkörperte Bernstein so etwas wie das amerikanische Selbstbewusstsein auf kulturellem Gebiet. Man hatte jetzt einen Star aus eigenen Reihen, war nicht mehr auf Musiker aus Europa angewiesen. Zudem erhofften sich amerikanische Komponisten und Künstler von Bernstein stärker berücksichtigt zu werden als es bei Mitropoulos der Fall war.
Das alles zusammen führte dazu, dass Bernstein binnen kurzer Zeit „in“ und Mitropoulos „out“ war. Und der Ältere ließ sich das Heft aus der Hand nehmen, ohne Widerstand zu leisten. Getreu der Bergpredigt hielt er auch diesmal noch die andere Wange hin.
Wie David Diamond, ein gemeinsamer Freund von Bernstein und Mitropoulos, später berichtete, habe Bernstein schon drei Jahre vor dem Machtwechsel auf die Übernahme des NYP spekuliert: „Die Musiker finden, dass Mitropoulos‚ Zeit abgelaufen ist“, sagte Bernstein, „sie nehmen ihm übel, dass er ihnen keine Disziplin beibringen kann, dass er ihnen durchgehen lässt, wenn sie wie die Schweine spielen. Alles was ich möchte ist, dieses Orchester zu übernehmen und aufzubauen. Ich glaube nicht, dass sie noch lange mit Dimitri weiter machen werden.“
Wohlgemerkt, das war zwei Jahre vor der Taubman-Attacke. Mitropoulos kompensierte seinen Prestigeverlust mit Arbeit. Er mutete sich ein Pensum zu, dass auch einen gesunden jungen Mann überfordert hätte. Am 29. Januar 1959 erlitt er einen zweiten Herzinfarkt, der ihn ein halbes Jahr zum Pausieren zwang. Da er sein Geld immer mit vollen Händen verschenkt hatte (meist an junge Musiker und Bittsteller) geriet er am Ende seiner Aus-Zeit in finanzielle Not. Obwohl er im Jahr zuvor 100.000 Dollar verdient hatte, konnte er seine Krankenhaus-Rechnungen nicht bezahlen. Optisch um zehn Jahre gealtert und noch immer stark angegriffen, flog er nach Europa. Ob er durfte oder nicht – er musste wieder arbeiten.
In Salzburg dirigierte Schmidts „Buch mit den sieben Siegeln“, danach fuhr er nach Köln, für zwei Aufführungen von Mahlers Sechster. Eine davon wurde aufgezeichnet und vor einigen Jahren in der Reihe „Great Conductors of the 20th Century“ veröffentlicht. Ein zentrales Dokument, nicht nur im Schaffen von Mitropoulos, sondern in der gesamten Mahler-Diskographie.
MUSIK: CD 8, Track 4 ab 21:08 bis Ende
Mahler, Sinfonie Nr. 6 Sinfonie-Orchester des WDR Köln, 31. August 1959 IMG CD 8:30
Der Schluß von Mahlers 6. Sinfonie, aufgenommen am 31. August 1959 im Kölner Funkhaus. Wenige Tage später schrieb Mitropoulos seiner Jugendfreundin Katy Katsoyannis folgenden Brief:
Meine liebe Katy, was soll ich dir sagen, ich bin bei guter Gesundheit, aber ich bin nicht mehr derselbe. … Ich schaue mir die Leute in meiner Umgebung mit derselben Zuneigung an, aber mit mehr Indifferenz, so als ob ich nicht mehr unten ihnen wäre und sie von einer anderen Welt aus betrachten würde. Das beängstigt mich manchmal. Ich habe keine Gewissheit, ob ich noch am Leben bin oder noch lange leben werde. Es ist, als würde ich mein Ende erwarten. Ich hoffe nur, dass dieses Gefühl mit der Zeit wieder verschwindet. Und ich fürchte mich davor, wieder diese schreckliche Atmosphäre von Ärzten und Krankenschwestern erleben zu müssen.
Im Dezember 1959 und Januar 1960 teilten sich Mitropoulos und Bernstein die Konzerte des Mahler-Festivals beim New York Philharmonic. Mitropoulos dirigierte die Erste, die Fünfte, die Zwei-Sätze-Version der Zehnten und abschließend die Neunte.
Mahlers gewaltigstes Werk, die Achte, dirigierte er erstmals Ende August 1960 bei den Salzburger Festspielen. Otto Strasser, damals Vorstand der Wiener Philharmoniker, hat von der Probe folgendes berichtet:
Diese „Sinfonie der Tausend“ wurde in der Felsenreitschule aufgeführt, und schon die Aufstellung der Riesenchöre, der Sängerknaben und der vielen Solisten wurde zum Problem. Hinzu kam, dass Otto Wiener erkrankte und mit einer Absage drohte und außerdem durch die Aufstellung und das Riesenaufgebot alles anders klang, als Mitropoulos es sich vorgestellt hat. Er verlor die Herrschaft über seine Nerven, stieg vom Pult, vergrub den Kopf in den Händen und begann zu schluchzen. Jemand kam auf die Idee, das Dirigentenpodium radikal zu erhöhen, und damit waren alle Probleme gelöst. Nun stimmte die akustische Balance für Mitropoulos. Er hörte, was er erwartet hatte, war zufrieden und dirigierte eine grandiose Aufführung.
MUSIK: CD 9, Track 1, von 20:50 bis Ende
Mahler, Sinfonie Nr. 8 1. Teil: Hymnus – Gloria
Coertse, Zadek, West, Malaniuk, Zampieri, Prey, Edelmann, Wiener Staatsopernchor, Wiener Singverein, Wiener Sängerknaben
Salzburg, 28. August 1960
Orfeo CD 3’05
Hören wir zum direkten Vergleich die erste Aufnahme von Leonard Bernstein, die sechs Jahre später in London entstand.
MUSIK: CD 10, Track 13
Mahler, Sinfonie Nr. 8 1. Teil, Hymnus: „Gloria“
Spoorenberg, Jones, Annear, Reynolds, Procter, Mitchinson, Ruzdjak, McIntyre, Leeds Festival Chorus, London Symphony Chorus, Orpington Junior Singers, Highgate schoolboys Choir, Finchley’s Children Music Group, London Symphony Orchestra, Leonard Bernstein
CBS 1966 2’05
Um nicht missverstanden zu werden: Es geht hier nicht darum, einen Dirigenten auf Kosten eines anderen auf den Sockel zu heben. Sondern darum aufzuzeigen, wie schnell der Ruhm eines großen Interpreten verblasst, wenn er nicht angemessen auf Platten dokumentiert ist. Dass Mitropoulos nach seinem Tod so schnell in Vergessenheit geriet, liegt sicher zum großen Teil daran, dass die meisten seiner Studio-Aufnahmen nur ein begrenztes Bild von seiner Größe vermitteln. Und leider waren Live-Mitschnitte auf Platten damals noch die Ausnahme – oder es gab sie nur rabenschwarz unterm Ladentisch. Diese Achte aus Salzburg zum Beispiel kursierte jahrelang nur in minderwertigen Pressungen mit heftigen Verzerrungen. Erst die legale Veröffentlichung in der Reihe „Salzburger Festspiel-Dokumente“ lässt ahnen, wie aufregend die Aufführung gewesen sein muss.
K.H. Ruppel, damals einer der führenden deutschen Kritiker, sprach von einem dirigentischen Gestaltungswillen, dem es nicht um die Entladung der Klangmassen ging (mit der sich die „Achte“ auf die billigste Art und Weise „imposant“ machen lässt), sondern um die Verwirklichung dessen, was man treffend Mahlers „Klangraumempfinden“ genannt hat – genau dessen also, was den inneren Zusammenhang der 1906 komponierten Symphonie, die eigentlich eine symphonische Kantante ist, mit der Musik der Gegenwart dokumentiert.
„Von ganz verschiedenen Seiten her müssen die Themen kommen und völlig verschieden sein in Rhythmik und Melodik“: Scheint dieser Satz Mahlers nicht schon die Klangraumstruktur jüngster stereophonischer Partituren von Berio, Pousseur, Boulez und anderen vorauszunehmen? War die Aufführung unter Mitropoulos nichts anderes als die klingende Exegese dieses Satzes, nicht ein Beweis für die (so oft geleugnete) Kontinuität in der Entwicklung der Musik unseres Jahrhunderts von seinem Anfang hinaus über seine Mitte? … Und wie man in dieser Wiedergabe der „Achten“ spürt, was Mahler mit den nachfolgenden Generationen verbindet, so erkennt man auch klar, wie ihn sein geistiges und humanistisches Pathos in die Nachfolge Beethovens stellt.
MUSIK: CD 11, Track 9, Applaus etwas stehen lassen, dann ausblenden Mahler, Sinfonie Nr. 8 2. Teil, Schluß-Szene aus Goethes „Faust“: „Alles Vergängliche..“
Coertse, Zadek, West, Malaniuk, Zampieri, Prey, Edelmann, Wiener Staatsopernchor, Wiener Singverein, Wiener Sängerknaben
Salzburg, 28. August 1960
Orfeo CD 6:30
Nach dieser Achten ging Mitropoulos für fünf Wochen nach Wien. In der Staatsoper dirigierte er eine Neuproduktion von Verdis Macht des Schicksals, in der sämtliche Beteiligten mit einer Besessenheit sangen und musizierten, als sei dies ihre letzte Aufführung. Für Mitropoulos war es das tatsächlich. Stand Verdi am Ende seiner Bühnenlaufbahn, so war es im Konzert Gustav Mahler. Am 2. Oktober 1960 leitete er im Großen Wiener Musikvereinssaal eine Aufführung von Mahlers Neunter, am 31. Oktober dirigierte er im Funkhaus des WDR Köln sein letztes Konzert, Mahlers Dritte.
In der Pause war sein Gesundheitszustand derart alarmierend, dass das Aufnahmeteam des WDR dem Dirigenten nahe legte, die zweite Hälfte abzusagen. Doch Mitropoulos machte weiter. Nach der Aufführung verbeugte er sich kurz, und bevor ihn irgend jemand daran hindern konnte, nahm er rasch seinen Koffer, setzte sich ins Taxi und fuhr zum Bahnhof. Am nächsten Morgen war er in Mailand. Hier sollte er nochmals Mahlers Dritte dirigieren. Beim Frühstück in einem Kaffeehaus traf er auf den ersten Oboisten des Orchesters. Der Musiker registrierte sofort, dass Mitropoulos in äußerst schlechter Verfassung war: Er war kreidebleich und hatte Mühe mit dem Atemholen.
Um zehn begann die Probe in der Scala. Mitropoulos wurde vom Orchester mit Beifall begrüßt. Als er die besorgten Gesichter der Musiker sah, meinte er: „Ja, es ist wahr, ich bin erschöpft. Aber ich bin wie ein altes Auto, bei dem schon einige Teile verschlissen sind, das aber immer noch fährt.“ Vor Takt 80, dem großen Auftritt der Posaunen, hielt Mitropoulos plötzlich inne und setzte sich zurück auf seinen Hochsitz. Sein Gesicht erstarrte, sein Körper neigte sich nach vorn, und wie eine Statue, die vom Podest fällt, stürzte er in den Orchestergraben. Als die Ärzte eintrafen, war noch ein schwacher Puls zu spüren, doch als der Rettungswagen die Polyklinik erreicht hatte, war Mitropoulos tot.