Thomas Voigt
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Andreas Staier

Vom Tarzan-Workshop ins Orchester

Wer einmal erlebt hat, wie Künstler um den heißen Brei herumreden, um bloß nicht irgendwo anzuecken, kann ein Gespräch mit Andreas Staier nur als erfrischend empfinden. Ob Historische Aufführungspraxis, Plattenkonzerne oder Häppchen-Klassik – er nennt die nge beim Namen und hat keine Scheu sich angreifbar zu machen. besuchte den Pianisten in seinem Haus in Köln.

Was sehe ich da, eine LP mit Elly Ney? Gehörte Sie zu den Idolen Deiner Jugend?

So alt bin ich nun auch wieder nicht!

Ich meinte die Platten!

Schon klar. Nein, sie war kein Idol. Und eigentlich hatte ich überhaupt keine Idole. Ich habe einfach Klavier gespielt und Musik als großen Freiraum empfunden. Da konnte ich tun, was ich wollte, da redete mir keiner rein. Mir ging es immer eher um musiktheoretisches Basteln, also darum, wie die Musik „im Innersten“ funktioniert, als dass ich mich in erster Linie an den großen Interpreten orientiert hätte. Außerdem haben sich nach Göttingen, wo ich aufgewachsen bin, auch nicht so viele Weltstars verirrt. Ich habe mich in diesen Jahren mehr für Musik als für Interpretation interessiert, habe mir viele Taschenpartituren gekauft, aber nur selten Platten. Wenn ich aber doch ein prägendes Hör-Erlebnis nennen sollte, dann vielleicht ausgerechnet das Weihnachtsoratorium unter Karl Richter. Wenn da das volle Orchester losdonnert und Hedwig Bilgram in die Tasten haut – prächtiger und größer geht es nicht, dachte ich damals. Sicher ist die Aufnahme nicht das, was ich mir heute unter dem Stück vorstelle, aber wer weiß, vielleicht war ja Richter gar nicht so übel, wie man heute denkt. Es kann gut sein, dass es in zwanzig Jahren ein Richter-Revival gibt.

Begriffe wie „historisch“ und „authentisch“ sind r suspekt.

Weil sie nichts über die musikalischen Phänomene sagen, um die es geht. Kein Musiker, der noch alle Tassen im Schrank hat, würde behaupten: „So hat es zu s Zeiten in Leipzig geklungen!“

Nun verfügen wir nach der Pionierarbeit von Harnoncourt und all der anderen längst über ein breites Spektrum von „historisch informierten“ Lesarten. Wie erklärst Du r, dass manche Hörer noch immer Probleme mit Countertenören und Originalinstrumenten haben und die Alte-Musik-Szene als „vegetarisch“ abtun? e Macht der Hörgewohnheit?

Sicher. Was der Bauer nicht kennt, das frisst er nicht. Oder positiv formuliert: Wer öfter mal etwas Neues probiert, statt immer wieder dasselbe zu futtern, ist eben auch empfänglich für die Reize des Ungewohnten. Nimm zum Beispiel die leidige skussion über den Gebrauch des Vibrato. Manche finden einen vibratoarmen Stimmklang unerotisch, weil sie das normale Opern-Vibrato gewöhnt sind. Aber niemand stört sich daran, dass die klassischen Klarinettenspieler alle ohne Vibrato spielen – im Gegensatz zu den Jazz-Klarinettisten. Man ist es einfach so gewöhnt, und keiner sagt, dass das unerotisch klingt. Für mich ist ein permanentes Vibrato genauso eine Verarmung wie ein konstantes Non-Vibrato: In dem Moment, wo man ein Mittel des Ausdrucks dauernd und unreflektiert benutzt, verliert es an Bedeutung.

Zu einer „richtigen“ Aufführung gehört auch der passende Raum. Muss man da als Musiker nicht viel öfter Kompromisse machen als einem lieb ist?

. Man kann nicht immer nur in Räumen spielen, die dem jeweiligen Stück angemessen sind. Und so muss man sich oft genug fragen: Was ist „unhistorischer“? Wenn man mit alten Instrumenten in einem zu großen Saal auftritt oder wenn bei großen Sälen konsequenterweise auf moderne Instrumente zurückgreift?

Wieviel Instrumente hast Du hier im Haus?

Zu viele! Einen modernen Flügel, ein Cembalo, zwei originale Hammerflügel und zwei Kopien.

Gehst Du damit auch auf Reisen?

Mit den Originalen nicht, aber manchmal mit den Nachbauten, wenn ich vor Ort kein passendes Instrument finde. Doch die Familie der Cembalisten und Fortepianisten ist sehr klein, da man weiß ziemlich schnell, wo man welche Instrumente findet. Natürlich hätte ich lieber einen Sponsor, der mir ein Transportunternehmen finanziert, so dass ich immer auf meinen Instrumenten spielen kann. Aber bis heute hat sich keiner gemeldet.

Deine Erfahrungen mit den „Majors“ der Plattenbranche sind ein Kapitel für sich. Als besonderes Highlight habe ich die Geschichte mit dem Manager in Erinnerung, der ch fragte, ob Du nicht Lust hättest, „-Klavierkonzerte“ aufzunehmen…

Das war der Punkt, wo ich mir sagte: Jetzt ist Schluß! Ich konnte diese Ignoranz nicht mehr ertragen und habe die Plattenfirma gewechselt. Seit einem Jahr bin ich bei harmonia mundi, und diese Firma funktioniert Gott sei Dank ganz anders als die großen Konzerne. Man bespricht alles direkt, muss keinen langen Weg durch diverse Instanzen zurücklegen, und es gibt keine Hofschranzen, die jede Woche eine andere Meinung haben, je nach dem, was in den oberen Etagen gerade wieder verlautbart wurde.

Warum sitzen in den oberen Etagen oft Leute, die über nge entscheiden, von denen sie keine Ahnung haben?

Das habe ich mich oft gefragt, im Fall Opel genauso wie bei den Zuständen in der Plattenbranche. Und was mich am meisten wundert: Dass solche Leute, obwohl sie ihren eigenen Maßstäben von Profitabilität keineswegs entsprechen, trotz nachweisbarer Misswirtschaft ihren Marktwert über Jahre behalten und immer wieder neuen Schaden anrichten dürfen – während es für diese Jobs hochqualifizierte Leute gibt, die nicht mal gefragt, geschweige denn engagiert werden.

Zur „freiwilligen Selbstverblödung“ der Plattenbranche, von der Du in Interviews gesprochen hast, kommen zahllose Varianten von Volksverdummung in Rundfunk und Fernsehen…

… in Form von permanenter Unterforderung. Da hat ein Soziologe festgestellt, dass die Konzentrationsspanne der durchschnittlichen deutschen Hausfrau bei drei Minuten liegt – und schon wird alles, was etwas anspruchsvoller zu sein droht, entweder auf ganz frühe Sendeplätze verlegt oder so weit reduziert, bis nur noch Drei-Minuten-Häppchen übrig bleiben. Mit dem Resultat, dass die Leute irgendwann tatsächlich so blöd sind, wie man ihnen anfangs unterstellte.

Sind solche Entwicklungen auch im Konzertbetrieb zu spüren?

Noch nicht. Aber man merkt schon, dass dieses flächendeckende Angebot, das ja das Besondere der deutschen Musikkultur ausgemacht hat, nicht mehr so da ist wie früher. Zum Beispiel die Konzertreihen in kleineren Städten, die meist von musikbegeisterten Laien organisiert wurden, die gibt es immer weniger. Das ist so ähnlich wie mit den kleineren Opernhäusern in Ostdeutschland, die Lücken sind deutlich zu spüren. Trotzdem glaube ich nicht, dass das Interesse an klassischer Musik unaufhaltsam ausstirbt. Es wird immer ein Publikum dafür geben. Nur muss man sich vielleicht von der Vorstellung lösen, den alten Werke-Kanon für immer und ewig erhalten zu können. Denn in erster Linie geht es nicht um die Bewahrung klassischen Bildungsgutes, sondern um die Elementarerfahrung mit Musik.

In letzter Zeit scheint man ja wieder die therapeutische Wirkung von Musik zu entdecken…

Sogar in Wirtschaftskreisen hat sich das herumgesprochen. Da wurde doch die Bremer Kammerphilharmonie von einer Gruppe von Managern heimgesucht. e hatten, solange an der Börse alles gut ging, in Tarzan-Workshops das Überleben im Dschungel geprobt: Mit der Machete durch den Urwald und einer gegen den anderen. Als aber schlechte Zeiten kamen und immer mehr Leute ihren Job zu verlieren drohten, entdeckten sie die Wonnen des sozialen Miteinander und dachten: Jetzt gucken wir mal bei den Musikern, wie man zusammen arbeitet und trotzdem jeder kreativ ist. Dann sind sie also zum Orchester, durften auch mal dirigieren und haben ein Heidengeld dafür bezahlt. Und in den Zeitungen wurde das als großes ng verkauft, von dem die Welt noch nie gehört hat. Dass Musik eine soziale Rolle spielt und Menschen aller Wahrscheinlichkeit nach zum Positiven verändert, weiß man zwar seit Urzeiten, aber offenbar wird das im Alltag gern verdrängt – bis dann wieder mal in der Zeitung steht, dass Kühe mehr Milch bei geben.

(C) , veröffentlicht 2004 in Rondo.