Thomas Voigt
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„Ich sang so, wie ich fühlte“

In memoriam Ursula Schröder-Feinen (1936-2005)

Es gibt Stimmen, die wie ein Naturereignis über den Hörer hereinbrechen. Und es gibt solche, die in die Tiefe des Herzens dringen. Dass beides zusammen kommt, ist sehr selten, zumal im sogenannten „Hochdramatischen Fach“. Zu diesen Ausnahmen gehörte Ursula Schröder-Feinen. Wenn sie als Elektra, Färberin oder „Fidelio“-Leonore auf der Bühne stand, war man überwältigt von der schieren Pracht des Klanges – und zugleich tief bewegt von der ehrlichen, unschuldigen Art ihres Singens.

„Ich werde nie vergessen, als ich sie zum ersten Mal hörte, bei einer ‚Elektra’-Probe in Berlin. Man hatte mir wohl gesagt, dass ich eine herrliche Stimme hören werde, aber ich war nicht gefasst auf das, was dann kam. Sie war so anrührend als Elektra, dass mir die Tränen gekommen sind.“ Was Leonie Rysanek von ihrer ersten Begegnung mit Ursula Schröder-Feinen erzählte, deckt sich mit vielen Berichten von Zeitzeugen. Ähnlich enthusiastisch berichtete Martha Mödl von einem der ersten Auftritte der Sopranistin an der Deutschen Oper am Rhein. Wieder war es in „Elektra“, aber damals sang sie noch die Chrysothemis – und sei so aufregend gewesen, dass nach ihrer Phrase „Nein, ich bin ein Weib und will ein Weiberschicksal“ spontaner Beifall losbrach.

Um so merkwürdiger, dass es von dieser Stimme nicht eine einzige „offizielle“ Aufnahme gibt, sondern bislang nur unautorisierte Mitschnitte auf dem „grauen Markt“. Sicher, wie Mödl oder Rysanek war auch Ursula Schröder-Feinen eher ein „Bühnentier“ als eine Mikrophon-Sängerin; dennoch ist es schwer zu begreifen, dass in den 18 Jahren ihrer Karriere (1961-79) verschwindend wenige Aufnahmen gemacht hat: eine paar Rundfunk-Produktionen, den TV-Soundtrack von Webers „Oberon“ – und so gut wie nichts für die Platten-Industrie. Die einzige kommerzielle Einspielung, an der sie beteiligt war, Wagners „Lohengrin“ unter Karajan, stand unter einem schlechten Stern. Nach dem „Walkout“ von René Kollo und Karl Ridderbusch musste die Aufnahme jahrelang auf Eis gelegt werden. Und als sie 1981 endlich fertiggestellt werden konnte, war es für Ursula Schröder-Feinen zu spät: Eine schwere Stimmkrise beendete ihre Karriere viel zu früh, im Alter von 43 Jahren.

Begonnen hatte sie im Opernhaus ihrer Heimatstadt Gelsenkirchen. In ihren ersten drei Bühnenjahren sang Ursula Schröder-Feinen dort im Chor. 1961 schaffte sie den Sprung in die Solo-Karriere: Zunächst als Christl von der Post in Zellers „Vogelhändler“ und bereits eine Woche später als Aida. Trotz schneller Erfolge blieb sie weitere sieben Jahre in Gelsenkirchen. 1968 wechselte sie an die Deutsche Oper am Rhein. Hier sang sie in den folgenden Jahren von der Jenufa bis zur Elektra das große Fach, und von hier aus startete sie zu Gastspielen an allen bedeutenden Opernhäusern der Welt. 1970 debütierte sie an der Met (als Chrysothemis in „Elektra“), 1971 in Bayreuth (als Senta im „Holländer“), 1973 bei den Salzburger Festspielen (als Ortrud in besagter „Lohengrin“-Produktion unter Karajan) und an der Wiener Staatsoper (als Salome). An der Deutschen Oper Berlin gehörte sie bald zu den Publikumslieblingen; unvergessen bleibt ihre Elektra in der Inszenierung von Ernst Schröder, mit Astrid Varnay / Martha Mödl als Klytämnestra, Leonie Rysanek als Chrysothemis und Lorin Maazel am Pult. Sie sang die Brünnhilden in Bayreuth und an der Met, sang die Färberin im legendären „Frau ohne Schatten“-Team unter Karl Böhm, sang an der Mailänder Scala, in San Francisco, Chicago, Paris, Prag und Amsterdam.

Es scheint eine alte Regel zu sein, dass Sänger mit großer Naturstimme spätestens nach ihrem 40. Lebensjahr gezwungen sind, über ihre Gesangstechnik nachzudenken. Was jahrelang von selbst funktionierte, geht nicht mehr mit der gewohnten Selbstverständlichkeit. Nur führt dieses „Nachdenken“ häufig in eine Krise. Diesen Prozeß haben viele Sänger mit dem Bild des Tausendfüsslers beschrieben: Sobald er daran denkt, welches Bein er zuerst hebt, kann er nicht mehr laufen. Bis zu ihrer Krise hatte Ursula Schröder-Feinen mit jener „Unschuld“ gesungen, die Sängern mit üppiger Naturstimme und starkem Instinkt eigen ist: Sie konnte ihre Stimme einfach strömen lassen, sich ganz auf den Ausdruck konzentrieren, auf den Text, auf die Darstellung. Beim „Siegfried“ aber verlor sie diese „Unschuld“. Sie dachte nach und bekam Angst. In einem Interview mit Geerd Heinsen, dem Redakteur des Opernmagazins „Orpheus“, hat sie diesen Moment folgendermaßen beschrieben: „Ich stand auf der Riesenbühne der Met, hatte einen Moment Zeit vor meinem Einsatz und dachte: O Gott, wenn ich jetzt etwas falsch mache! Die vielen Menschen da unten… Und plötzlich lernte ich die Angst kennen, Angst vor dem Versagen… Vorher war alles so natürlich gewesen, der Sprung von mittleren Bühnen an die großen… Und auch die großen Partien waren normal gewachsen. Ich hatte nie Probleme beim Singen, nie Probleme mit den hohen Noten oder mit dem Volumen von Stimme und Orchester. Ich sang ganz einfach so, wie ich fühlte, und so war auch meine Darstellung. Aber dieses eine Mal an der Met! Die Angst blieb, ich verkrampfte mich, fing an, technisch etwas falsch zu machen.“

Hinzu kam eine Stirnhöhlen-Vereiterung, mit der sie monatelang sang, bis sie eine „Fidelio“-Aufführung abbrechen musste. Sie legte eine lange Pause ein, arbeitete mit Gesangslehrern, versuchte, das Problem der „verlorenen Unschuld“ in den Griff zu bekommen, technisch bewusster zu singen, ohne den natürlichen Lauf der Stimme zu blockieren. Dass es ihr trotz harter Arbeit nicht gelang, im Operngeschäft wieder Fuß zu fassen, liegt auch an der Grausamkeit des Musik Business. Man ließ sie fallen, gab ihr nicht die Chance für ein Comeback. Zwar soll sie aus dieser Feuerprüfung als gereifter Mensch hervorgegangen sein (nicht zuletzt durch ihre Beschäftigung mit dem Buddhismus) – doch wer diese reiche, unverwechselbare Stimme im Ohr hat, dem fällt es schwer, das Leben der Sängerin, das am 9. Februar 2005 nach einer schweren Grippe endete, ohne eine Spur von Bitterkeit zu betrachten.

Auf dem vorliegenden Portrait sind ausschließlich Live-Aufnahmen von Aufführungen der Deutschen Oper am Rhein zu hören. Wenngleich diese Dokumente klangtechnisch zu wünschen übrig lassen, vermitteln sie doch einen starken Eindruck von der Künstlerin. Schon beim Rezitativ der Leonore („Abscheulicher! Wo eilst du hin?“) spürt man die raumfüllende Präsenz dieser Stimme, die in der Mittellage und Tiefe genau voll klingt wie in der Höhe. Eben dies, und nicht das „Je höher, desto lauter“ kennzeichnet ja den echten dramatischen Sopran. Und wenn dann die heikle Stelle kommt, vor der alle Soprane innerlich ein Stoßgebet zum Himmel schicken („Die Liebe, sie wird’s erreichen“), dann muss man bei Ursula Schröder-Feinen nicht bangen, ob sie bei aller Liebe das hohe und das tiefe H erreicht. „Phänomenal, wie stets, die Urwüchsigkeit und Sicherheit in den überhohen und extrem tiefen Lagen ihrer Naturstimme“, schrieb Heinrich von Lüttwitz nach der „Fidelio“-Premiere in der „Rheinischen Post“.

Von dieser reichen Mittellage profitiert auch die Erzählung der Sieglinde, deren Untiefen schon mancher Sopranistin zu schaffen gemacht haben. Ganz in ihrem Element scheint Ursula Schröder-Feinen in den drei Strauss-Partien gewesen zu sein: als Salome, Elektra und Färberin. Nach Inge Borkh ist sie eine der ganz wenigen, die über die rein vokale Bewältigung dieser Extrem-Partien weit hinaus gekommen sind – nämlich hin zu einer tief bewegenden Darstellung der jeweiligen Figur. Obwohl die Stimme immer in ihrer ganzen Größe im Raum steht, hat man bei Ursula Schröder-Feinen niemals den Eindruck vokaler Kraftmeierei. Aus allem was sie singt, klingt eine empfindsame Seele.

Mit den Auszügen aus der „Elektra“-Aufführung von 1973 knüpft das vorliegende Sänger-Portrait an die erste CD der Orfeo-Reihe „Deutsche Oper am Rhein“ an, die zwei „Elektra“-Vorstellungen aus dem Jahr 1964 enthält. Dort ist Astrid Varnay in der Titelpartie, hier ist sie als Klytämnestra zu erleben. Das Duell zwischen Mutter und Tochter mit Schröder-Feinen und Varnay gehörte in den 70er Jahren zu den Highlights der Opernszene, an der DOR genauso wie in Berlin, Hamburg und München.

Dass die Krise bei Ursula Schröder-Feinen wohl unausweichlich war, die Stimme nicht immer mit der gewohnten Selbstverständlichkeit strömte, klingt bei der Premiere der „Frau ohne Schatten“ von 1977 ab und zu an, vor allem in jener Form des Anschleifens hoher Töne, die im angelsächsischen Sprachraum als „scooping“ bezeichnet wird. Dennoch beeindruckt die Sopranistin mit einer kreatürlichen Darstellung der Färberin, die das übliche Rollenklischee vergessen läßt: „keine Kratzbürste“, schrieb KH Ruppel nach der Premiere für die Süddeutsche Zeitung, „sondern eine Getriebene, ihrer selbst nicht kundig, bis aus tiefster Angst und Verzweiflung die Liebe zu ihrem Mann Barak in ihr durchbricht.“

Den Barak singt Gerd Feldhoff. Auch er gehört zu den Sängern, die auf Platten nicht annährend so präsent sind, wie sie es aufgrund ihres Könnens verdient hätten. Als Barak konnte er mit den berühmtesten Interpreten der Partie (Walter Berry, Dietrich Fischer-Dieskau) mühelos mithalten, seine anrührende Darstellung des einfachen Mannes bleibt vielen Zuschauern unvergessen. Außerdem ist hier erstmals Hildegard Behrens als Kaiserin dokumentiert (in der Gesamtaufnahme der „Frau ohne Schatten“ unter Solti singt sie die Färberin), wenige Monate nach jener Salzburger „Salome“ unter Karajan, mit der ihre Weltkarriere begann. In Fachkreisen attestierte man dieser „Frau ohne Schatten“ eine Qualität, mit der die DOR an die Pionierarbeit von Karl Böhm und seinem Team anknüpfen konnte – nicht zuletzt, weil der Regisseur, Nikolaus Lehnhoff, fünf Jahre zuvor mit Böhm die französische Erstaufführung an der Pariser Opéra erarbeitet hatte.

Thomas Voigt  C 2006