Thomas Voigt
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Strauss: Elektra

Highlights from two performances at the Deutsche Oper am Rhein, Düsseldorf

February 1964  , Jean , Hilde ,
December 1964  , Martha ,
Chor und
Conductor 

Artistic Supervision, Liner Notes 
Released  2004
CD 

Elektra am Rhein

Wer in den 70er Jahren eine „Elektra“-Aufnahme mit Astrid Varnay erwerben wollte, war entweder auf die Gunst langjähriger Tonband-Sammler angewiesen – oder er musste sich, wie ich als 16jähriger, an jene „grauen“ oder rabenschwarzen Pressungen halten, die man teilweise nur über den Direktversand bekam. So hieß denn auch das Label, auf dem das konzertante Elektra-Debüt der Varnay (Carnegie Hall 1949) erschien, treffenderweise „Robin Hood Records“. Auch die erste Bühnen-Elektra der Varnay (Met 1952 mit Elisabeth Höngen als Klytämnestra und Fritz Reiner am Pult) und die legendäre Salzburger Aufführung von 1964 (Varnay, Mödl / Karajan) kursierten in jenen „grauen“ Ausgaben, die Sammlerherzen höher schlagen und Justiziare Abmahnungen verfassen ließen.

Tempi passati. Spätestens, nachdem sich die CD auf dem Tonträgermarkt durchgesetzt hatte, war in der Platten-Industrie eine deutliche Bewußtseinsänderung gegenüber historischen Live-Mitschnitten und Rundfunk-Aufnahmen zu bemerken: Man hatte zur Kenntnis genommen, dass viele Sammler anstelle steriler Studio-Aufnahmen viel lieber spannende Live-Mitschnitte mit kleinen Fehlern und Publikumsgeräuschen hörten. Ob Callas-Abende an der Scala, Mozart- und Strauss-Aufführungen in Salzburg oder Wagnerpremieren in München – vieles, was es früher nur bei den „Piraten“ gab, liegt längst legal bei renommierten Platten-Firmen vor. So sind auch die Elektra der Varnay und die Klytämnestra der Mödl seit Jahren in autorisierten Ausgaben greifbar.

Vor diesem Hintergrund werden sich manche Sammler vielleicht fragen, warum dann zum Auftakt der vorliegenden Serie „Elektra“-Auszüge mit Varnay und Mödl gewählt wurden. Dafür gibt es mehrere Gründe: Erstens wurde die Deutsche Oper am Rhein am 29. September 1956 mit einer „Elektra“-Premiere eröffnet, in der Astrid Varnay die Titelpartie sang. Zweitens haben Martha Mödl und Astrid Varnay über Jahrzehnte das künstlerische Gesicht der DOR entscheidend mitgeprägt. Drittens sind hier neben den beiden „Ikonen“ hervorragende Künstler zu hören, die auf Platten unterrepräsentiert sind: Marijke van der Lugt und Randoph Symonette, Hilde Zadek und Enriqueta Tarres. Und viertens galt es, die Arbeit des Mannes zu dokumentieren, der Jahrzehnte als „guter Geist“ der Düsseldorf-Duisburger Oper galt: Der Dirigent Arnold Quennet (1905-1998). 36 Jahre, von 1951 bis 1987, sorgte er für künstlerische Integrität und Qualität an beiden Häusern. Nicht nur de facto, sondern auch im höheren Sinn war Quennet „Erster Kapellmeister“: ein echter Theatermusiker, der in jeder Situation den Überblick behielt. Die Sänger und Musiker fühlten sich bei ihm sicher, und die Intendanten der DOR konnten jeder noch so komplizierten Einstudierung gelassen entgegen sehen: Mit ihm war man auf der sicheren Seite, selbst wenn ein Dirigent in letzter Minute ausfiel. Als Alberto Erede, der langjährige GMD der Deutschen Oper am Rhein, einmal krank wurde und die Mailänder Scala händeringend einen Dirigenten für „Palestrina“ suchte, stieg Quennet ins Flugzeug, las die Partitur und dirigierte am nächsten Abend die Vorstellung. Was er in seiner ersten Spielzeit in Düsseldorf (1951/52) leistete, würde manchem Pultstar von heute den Angstschweiß auf die Stirn treiben: 14 Opern (darunter „Meistersinger“, „Fidelio“, „Othello“, „Traviata“, „Don Giovanni“ und „The Rake’s Progress“) und zwei Ballett-Produktionen. „Er beherrschte das ganze Repertoire, und gemessen an seinem Können hätte er eigentlich eine große Position in Wien haben müssen“, meinte Astrid Varnay rückblickend. Um Haaresbreite wäre Quennet auch nach Wien gekommen. 1944, nach zehn Kapellmeisterjahren in Duisburg und Hannover, war er von Karl Böhm an die Wiener Staatsoper berufen worden – „Gastspiel auf Anstellung“, wie es damals so schön hieß. Quennet dirigierte „La Bohème“ und „Rosenkavalier“, wenig später erhielt er einen Anstellungsvertrag. Doch zur gleichen Zeit hatte Goebbels den „Totalen Krieg“ verkündet; Quennet musste an die Ostfront und geriet schon kurz hinter Bratislava in Kriegsgefangenschaft.

Ob er später, als er Düsseldorf engagiert war und Karl Böhm zum zweiten Mal Direktor der Wiener Oper wurde, den Faden nach Wien wieder aufgenommen hat, lässt sich heute nicht mehr eruieren. Tatsache ist, dass er sich nicht zu schade war, für Böhm die „Elektra“-Premiere zur Eröffnung der DOR vorzubreiten.

Zum Theater kam Quennet auf Umwegen. Ebenso stark wie seine Liebe zur Musik war seine Begeisterung für Motorräder und Autos. Mit 16 machte er eine Lehre in einer Autofabrik, mit 20 zog er als Barpianist und Rennfahrer durch Südamerika, mit 24 eröffnete er einen Motorradladen in Wuppertal. Nach dieser Sturm- und Drangzeit siegte die Liebe zur Musik: Quennet lernte das Dirigenten-Handwerk bei Hermann Abendroth in Köln und begann seine Theater-Laufbahn als Korrepetitor bei Fritz Zaun an der Kölner Oper. Seine erste und letzte Vorstellung dirigierte er in Duisburg: 1936 begann er mit „La Traviata“, 1987 gab er seinen Abschied mit den „Meistersingern“. In den dazwischen liegenden Jahren leitete er 3030 (sic!) Vorstellungen.

Die Existenz der „Elektra“-Bänder verdanken wir seiner Initiative: Zur Kontrolle ließ Quennet etliche Vorstellungen auf seinem Tonbandgerät mitschneiden. Natürlich kann man die Klangqualität der Tonbänder nicht mit  Profi-Mitschnitten aus dieser Zeit vergleichen (zumal auch hin und wieder der Souffleur zu hören ist), doch für eine Amateur-Aufnahme dieses Alters ist die Qualität beachtlich. Über sechzig Aufführungen von 1958 bis 1987 enthält die Sammlung, die nach dem Tod des Dirigenten dem Düsseldorfer Theatermuseum übergeben wurde.

Die vorliegenden „Elektra“-Aufführungen aus dem Jahr 1964 dokumentieren den Übergang von der „Ära Juch“ (1956-1964) zur „Ära Barfuß“ (1964-1986). Die Aufführung vom 21. Februar brachte noch einmal die Herbert-Graf-Inszenierung von 1956, und mit Varnay, Zadek und Symonette war größtenteils die Premierenbesetzung aufgeboten. Neu hinzugekommen war die Sängerin der Klytämnestra: Jean Madeira (1918-1972), in Düsseldorf wie in Wien, München und New York die Nachfolgerin von Elisabeth Höngen, war mit einer reichen Kontraaltstimme gesegnet und verfügte über Klangfarben, die man in dieser Rolle bis dahin nicht gehört hatte. Als Klytämnestra gab sie auch, von einem Krebsleiden stark gezeichnet, 1971 ihr Farewell an der Metropolitan Opera.

Für Astrid Varnay (*1918) war die Düsseldorfer „Elektra“ der Anfang ihrer langen, 30 Jahre dauernden Verbindung zur Deutschen Oper am Rhein. Darüberhinaus stand das Stück im Zentrum ihres Bühnenlebens: Vier Jahrzehnte blieb es in ihrem Repertoire, und sowohl in der Titelpartie als auch als Klytämnestra machte sie Operngeschichte. Und wenn Astrid Varnay in ihren Memoiren die Frage stellt, ob es Ortrud oder Elektra war, „die meinen Beitrag zur Opernbühne am besten definierte“, so möchte man, bei aller Bewunderung für ihre Ortrud, ausrufen: Elektra! – konnte sie doch in dieser Rolle noch mehr Facetten ihrer Ausdruckskraft zeigen. Ihre Ortrud hatte die Faszination des Bösen, von ihrer Elektra war man tief im Inneren bewegt.

Dominierte die Varnay an der Rheinoper im hochdramatischen Fach, so war Hilde Zadek (* 1917) in der Amtszeit von Hermann Juch die erste Besetzung für jugendlich-dramatische Partien. Neben der Chrysothemis sang sie in Düsseldorf und Duisburg u. a. Marschallin und Arabella, Aida und Tosca, Sieglinde und die beiden Elisabeths („Tannhäuser“, „Don Carlos“). Ihr Stammhaus war die Wiener Staatsoper, an der sie zwischen 1947 und 1971 fast achthundert Vorstellungen gesungen hat. Randolph Symonette (1910-1998) war von 1954 bis Mitte der 60er Jahre der Heldenbariton der Deutschen Oper am Rhein. Körperlich und stimmlich ein Riese, gehörte er zu den eindrucksvollsten Gestalten der damaligen Opernszene; als Wotan, Telramund, Holländer und Pizarro machte er von Düsseldorf aus internationale Karriere (Zürich, Amsterdam, Brüssel, Barcelona, Rom, Paris, Metropolitan Opera).

Mit dem Intendanten-Wechsel von Hermann Juch zu Grischa Barfuß begann im September 1964 eine neue, künstlerisch überaus erfolgreiche Ära der Deutschen Oper am Rhein. Aus Wuppertal, wo er zuvor Intendant gewesen war, brachte Barfuß die „Elektra“-Inszenierung von Georg Reinhardt in den Bühnenbildern von Heinrich Wendel mit und stellte sie dem Düsseldorfer Publikum erstmals am 6. Dezember vor. Dass er dabei auch eine neue Besetzung präsentierte, liegt auf der Hand: Welcher Intendant greift bei seinen ersten Neuproduktionen schon auf das Sängerteam seines Vorgängers zurück? Das heißt, streng genommen war die Klytämnestra von Martha Mödl (1912-2001) keine Neuheit: Schon im Juni 1949 hatte sie die Rolle in der ersten Düsseldorfer „Elektra“-Inszenierung nach dem Krieg gesungen. Allerdings behauptete die Mödl rückblickend, dass sie diese Partie damals noch nicht habe ausfüllen können: „Ich war viel zu jung, wog damals 98 Pfund und musste mich neben der Elektra von Erna Schlüter behaupten, einer wunderbaren Sängerin mit einem ausdrucksvollen Gesicht, aber auch mit einer erdrückenden Gestalt. Neben ihr war ich wahrscheinlich gar nicht vorhanden“. Fünfzehn Jahre später, nach ihrer Weltkarriere im hochdramatischen Fach, gehörte die Mödl neben Jean Madeira und Regina Resnik zu den führenden Sängerinnen in dieser Partie. In einem Bericht der „Opera“ meinte Harold Rosenthal, ihre Klytämnestra sei ein ähnlich starkes Erlebnis gewesen wie eine Aufführung der Callas.

Wie groß damals das Potenzial im hochdramatischen Fach war, zeigt schon die Tatsache, dass 1964 auf dem internationalen Opernmarkt mindestens sechs Sängerinnen zur Verfügung standen, die die anspruchsvolle Rolle der Elektra souverän beherrschten: Neben Astrid Varnay und Inge Borkh waren das Gerda Lammers, Gertrude Grob-Prandl, Amy Shuard und Gladys Kuchta. Mit Marijke van der Lugt (1922-1989) bot Barfuß eine weitere hervorragende Elektra an, und Zeitzeugen schwärmen noch heute von der raumgreifenden Fülle ihrer Stimme. Die aus Den Haag gebürtige Sopranistin sang in Amsterdam das dramatische Repertoire von Donna Anna bis Turandot und gastierte in den 60er Jahren in Berlin, Wien, Zürich, London und Verona. Enriqueta Tarres (*1934) kam mit Barfuß aus Wuppertal. Wie bei Montserrat Caballé führte ihr Weg zunächst von Barcelona nach Basel, bevor sie von Deutschland aus internationale Karriere machte (Ariadne in Glyndebourne, Mimi an der Met, Marschallin in Venedig, Desdemona in London, Chrysothemis in Mexiko-City), um schließlich an das Teatro Liceu in ihrer Heimatstadt zurückzukehren. Von der großen Wandlungsfähigkeit dieser Sängerin zeugt u. a. eine Gesamtaufnahme von Offenbachs „La Grand-Duchesse de Gérolstein“. Der Orest jener Aufführung war Norman Bailey, damals am Beginn seiner großen Karriere als Heldenbariton. Somit war von der alten „Elektra“-Garde nur noch Arnold Quennet übrig geblieben, jener Kapellmeister, von dem Carlos Kleiber einmal sagte: „Er hat für Sänger immer eine Ecke in seinem Taktstock übrig.“

Thomas Voigt