Thomas Voigt
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Régine Crespin

Durchsucht man die Metropolitan Opera Archives nach Besetzungen, so kann man Rudolf Bing, den damaligen General Manager der MET, nachträglich nur beneiden. Zum Beispiel konnte er zwischen 1955 und 1970 für Puccinis Tosca zehn Primadonnen aufbieten, die in ihrer Eigen-Art unverwechselbar waren: Maria Callas, Renata Tebaldi, Zinka Milanov, Licia Albanese, Eleanor Steber, Dorothy Kirsten, Leontyne Price, Leonie Rysanek, Birgit Nilsson und Régine Crespin. Von einem derartigen Reichtum können wir heute nur träumen. In den 1950er und 1960er Jahren konnten Intendanten und Dirigenten aus dem Vollen schöpfen; wären sie Maler gewesen, hätten sie nicht zwischen rot und blau wählen müssen, sondern die gesamte Farbpalette benutzen können. Die Lust auf ungewohnte Klangfarben führte nicht selten zu außergewöhnlichen Besetzungen, hin und wieder auch zu Rollen-Debüts, die den Grundstein für eine internationale Karriere legten. Das vielleicht bekannteste Beispiel dafür ist Régine Crespin (1927-2007). Dass sie nach 1945 die einzige Französin war, die zur Topliga der Opernstars gehörte, war nicht zuletzt zwei Künstlern zu danken, die andere Klangfarben wollten.

Der erste war Wieland Wagner. Bei all seiner Bewunderung für Martha Mödl („Kundry! Isolde! Brünnhilde! Keine wie Du!“) suchte der Wagner-Enkel Ende der 1950er Jahre nach einer Kundry, die ganz anders klang als die Mödl – und fand sie, auf Vermittlung von André Cluytens, in Régine Crespin. Sie klang in dieser Rolle so verführerisch und sinnlich, dass selbst Hans Knappertsbusch, die knorrige deutsche Eiche unter den großen Dirigenten, weich wurde.

Der zweite war Herbert von Karajan. Für die Brünnhilde in seinem Salzburger Ring wollte er die Komplementärfarben zur unerschütterlichen Durchschlagskraft der damals in diesem Fach weltweit führenden Birgit Nilsson. Dass zwischen ihr und Karajan die Chemie nicht stimmte, dass der Dirigent nicht mit dem Humor der schlagfertigen Schwedin zurecht kam, war sicher mit ein Grund, warum er nach einer anderen Brünnhilde suchte. Doch vor allem wollte er für diese Partie eine modulationsfähige, farbenreiche Stimme –  idealerweise eine Sängerin, die den Wagnerschen Melos so sang wie eine italienische Partie; und die außerdem in der Lage war, die rezitativischen Passagen so differenziert und nuanciert zu gestalten wie eine Liedsängerin. Dass er sie in Régine Crespin gefunden hatte, war in Salzburg schon nach dem Schlachtruf der Walküre klar: Selten hat Brünnhildes „Dir rat ich, Vater, rüste dich selbst“ so unbekümmert, so keck und ironisch geklungen wie bei Crespin unter Karajan. Und selten wurde Brünnhildes Bitte „War es so schmählich“ so schön gesungen wie im Salzburger Ring.

Dass die Französin in der Lage war, mit den Texten von Wagner und Hofmannsthal fast genauso souverän umzugehen wie mit ihrer Muttersprache (nicht zuletzt dank ihres Sprachcoachs und Ehemannes Lou Bruder), war eine äußerst glückliche Voraussetzung für ihre Gestaltung der Marschallin im Rosenkavalier. Auch hier brachte sie andere Farben ein als die gewohnten. Nach der „Doppelbettstimme“ einer Lotte Lehmann und dem wienerischen Herzenston einer Maria Reining bot Régine Crespin vor allem die Komplementärfarben zum Pointillismus von Elisabeth Schwarzkopf; der ausgefeilten Detailarbeit der großen Preußin setzte sie Wärme, Charme und Noblesse entgegen. Und sie verfügte über etwas, was den leichteren Marschallin-Stimmen selten eigen ist: Grandeur.

In seinen detailliert-pointierten Analysen der Metropolitan Broadcasts hat Paul Jackson den Klang der Crespin als „faszinierende orchestrale Mischung“ beschrieben: „der durchdringende Ton einer Klarinette, verbunden mit der Wärme eines Horns und dem lyrischen Fluß einer Viola“.

Dass sie mit diesen Qualitäten ein ungewöhnlich breites Repertoire beherrschte, zeigt die vorliegende Sammlung ihrer Aufnahmen. Auch wenn sie sich nach eigener Aussage vor dem Mikrophon selten wohl fühlte, so hat sie im Studio doch immer wieder ihren Sonderrang dokumentieren können. Nicht nur auf den großen Bühnen der Welt, auch im Platten-Business war sie die einzige Sopranistin ihrer Generation, die die französische Gesangstradition weltweit hochhalten konnte. Warum die große Zeit der Pariser Opéra mit Sängern wie Ninon Vallin, Georges Thill und Germaine Lubin ein Ende fand, warum das französische Repertoire unter der Globalisierung des Opernbetriebes viel stärker zu leiden hatte als das italienische oder deutsche – das ist ein zu weites Feld, um es hier zu erörtern. Tatsache ist, dass zu Crespins Zeiten französische Sänger und französische Stücke international an Renomée eingebüßt hatten – sicher mit ein Grund, warum es noch lange dauern sollte, bis Opern wie Rossinis Guillaume Tell, Berlioz’ Les Troyens und Meyerbeers Les Huguenots eingespielt wurden. Dass Régine Crespin nur drei französische Opern komplett aufgenommen hat – 1958 Poulencs Dialogues des Carmélites, 1974 Bizets Carmen und 1976 Massenets Don Quichotte – , dass sie von La Damnation de Faust, Les Troyens, La Juive, Werther und Hérodiade nur Highlights einspielen konnte, mag man bedauern. Positiv betrachtet konnte die Sängerin, wie auch ihre belgische Kollegin Rita Gorr und der polyglotte Nicolai Gedda, via Platte und Rundfunk einer internationalen Hörerschaft vermitteln, wie das französische Repertoire klingen kann und klingen soll – exemplarisch nachzuhören in ihren Aufnahmen von Mathildes „Sombre foret“, Marguerites „D’amour l’ardente flamme“,  Brunehildes „Salut, splendour du jour“, Rachels „Il va venir“ und der Briefszene der Charlotte. Nicht zu vergessen ihre herrlichen Portraits diverser Charaktere in den Operetten von Jacques Offenbach!

Von zentraler Bedeutung sind ihre Aufnahmen des französischen Liedrepertoires, voran ihr Album mit Berlioz’ Les Nuits d’Été und Ravels Shéhérazade, das seit Jahrzehnten als Maßstab gilt, auch unter Sängern. So stellte Christa Ludwig mit Blick auf ihre eigene Interpretation von Les Nuits d’Été fest: „Tja, das ist authentisch! Quelle difference!“. Und Janet Baker soll gesagt haben: „Als ich diese Lieder erstmals von Régine Crespin hörte, war mein erster Gedanke, dass ich sie besser nicht hätte aufnehmen sollen“.

Zur Entstehung dieses Albums hat Régine Crespin eine interessante Geschichte erzählt. In Théophile Gautiers Gedicht „Le spectre de la rose“ (dem zweiten Titel in Les Nuits d’Été) spricht eine Rose zu einem jungen Mädchen; ihre letzten Worte lauten: „Ci-gît une rose que tous les rois vont jalouser“. Sinngemäß: „Alle Könige werden mich darum beneiden, dass ich an deinem Herzen sterben darf.“ Bei der Aufnahme ließ der Dirigent Ernest Ansermet Régine Crespin diese Phrase so lange wiederholen, bis sie schließlich fragte: „Maestro, was soll ich anders machen? Sie scheinen mit dieser Phrase nicht glücklich zu sein“. „Ja, Sie singen das immer auffällig hauchig“. – „Mit Absicht”, erwiderte die Sängerin, “denn die Rose stirbt, und das ist ihr letzter Atemhauch” – „Ach so, na dann nehmen wir doch den ersten Take!“

Dass die Sopranistin sich im Aufnahmestudio nicht annährend so wohl fühlte wie auf der Bühne, lag zum größten Teil daran, dass ihr Resonanz des Publikums fehlte. Als sie merkte, dass ihr im Studio ein Teil ihrer Spontaneität und Kreativität verloren gingen, lud sie Freunde als Zuhörer ein, um nicht völlig ins Leere zu singen.

Das Repertoire für ihre ersten Solo-Alben, 1958 unter Otto Ackermann und 1961 unter Georges Pretre, war offenbar mit Blick auf Bayreuth und die internationale Karriere gewählt worden. Ein Programm mit Wagner, Verdi und französischen Opern sowie ein reines Wagner-Recital. Dass sie im italienischen Fach genauso zu Hause war wie im deutschen, konnte sie 1963 mit ihrem Album Italian Operatic Arias unter Edward Downes und zwei Jahre später mit ihrem Verdi-Recital unter Pretre zeigen. Merkwürdig, dass sie für keine internationale Aufnahme einer Verdi-Oper berücksichtigt wurde, auch nicht für Puccinis Tosca. Immerhin geben die französischen gesungenen Szenen unter Pretre von 1960 eine Ahnung davon, dass sie in Puccinis Primadonnen-Oper den internationalen Vergleich nicht zu scheuen brauchte.

Ihre wunderbare Aufnahme von Wagners Wesendonck-Lieder wirft die Frage auf: warum nicht Isolde? Wieland Wagner war so erpicht darauf, sie in dieser Rolle zu hören, dass er sie in Bayreuth permanent mit „Guten Tag, Frau Isolde“ begrüßte. Worauf die Sängerin lächelnd erwiderte: „Nein. Guten Tag, Frau Crespin!“

Zwar spielte sie insgeheim auch mit dem Gedanken; „doch wann immer ich den Klavierauszug öffnete, um die Isolde zu lernen, hörte ich vor dem inneren Ohr die majestätische Stimme von Kirsten Flagstad und sagte mir: Nein, das hat keinen Sinn. Und ich bereue diese Entscheidung nicht. Da halte ich es mit Leonie Rysanek, die ebenfalls der Versuchung widerstanden hat und das folgendermaßen erklärte. Lieber sollen die Leute sagen: Schade, dass sie die Isolde nicht gesungen hat – anstatt zu sagen zu sagen: Schade, dass sie das auch noch singen musste!“

Nicht nur im französischen, auch im deutschen Liedrepertoire hat Régine Crespin großartige Aufnahmen hinterlassen. Ihre Version von Schumanns Liederkreis op. 39 ist vokal sicher nicht makellos, doch für mich der stärkste Beleg für ihre Aussage, dass ein Lied-Recital oft befriedigender sein kann als eine Opern-Aufführung. Die Eloquenz und Sensibilität, mit der sie das traurige Szenario in „Auf einer Burg“ gestaltet, ist ebenso berührend wie bewunderswert. Würde man nicht ihre Aufnahmen der Brünnhilde, Sieglinde und Marschallin kennen und wüsste man nicht, dass sie von einem Plattenproduzenten die „französische Kanone“ genannt wurde, so könnte man meinen, dass die Feinheiten des Liedgesangs ihre eigentliche Domäne waren.

Thomas Voigt © 2017