Thomas Voigt
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Untrügliches Stilgefühl 

Als die EMI am 27. April 1997 im neuen Festspielhaus in Glyndebourne ihr 100jähriges Bestehen feierte, konnte sie für die Conference einen Künstler gewinnen, der fast die Hälfte der Firmengeschichte miterlebt hatte. 45 Jahre zuvor, im Sommer 1952, hatte Nicolai Gedda seine erste Aufnahme für EMI gemacht, Boris Godunow unter Issay Dobrowen. In Glyndebourne schloß sich dann der Kreis, als der 72jährige noch einmal das berühmte Auftrittslied des Danilo sang: „Da geh ich zu Maxim“….

Schon was die Dauer der Karriere betrifft, ist Nicolai Gedda eine absolute Ausnahmeerscheinung. Was ihn aber von allen großen Tenören des 20. Jahrhunderts unterscheidet, ist seine Vielseitigkeit. Sieht man einmal ab von den schwersten Partien des Heldenfachs, so gibt es in der gesamten Musikliteratur praktisch nichts, was er nicht hätte singen können. Ob Bach oder Bernstein, Mozart oder Verdi, Belcanto oder Moderne, Klassische Operette oder Deutsche Spieloper, Meyerbeer oder Berlioz, Schubert oder Schostawitsch – Gedda hat das alles nicht nur bewältigt, sondern auf einem musikalischen Niveau dargeboten, das seither höchst selten erreicht wurde.

Die Basis für solche Vielseitigkeit war eine enorme Sprachbegabung. In Leipzig dreisprachig aufgewachsen (Russisch, Schwedisch, Deutsch), lernte Gedda in der Schule Latein und Englisch, während des Gesangsstudiums auch Italienisch, Französisch und Spanisch; später kamen Dänisch, Norwegisch, Finnisch und Tschechisch hinzu. All diese Sprachen fließend zu sprechen, ist schon erstaunlich genug; sie aber auch singen zu können, ist fast ein Wunder. Wer sich etwas mit Gesangstechnik auskennt, weiß, wie schwierig z. B. die Umstellung von Italienisch auf Französisch ist, allein schon wegen der total verschiedenen „Platzierung“ und Mischung der Klangfarben. Gedda hat das, Dank einer stupenden Technik, mühelos geschafft; und er klingt, so weit man das als nicht-polyglotter Hörer beurteilen kann, immer idiomatisch – ob in Barbers Vanessa oder in Boris Godunow, als Des Grieux oder Graf von Luxemburg. Hinzu kommt ein untrügliches Gespür für den jeweiligen Stil der Musik. Dass Rameau anders klingt als Gluck, Offenbachs Hoffmann anders als Bizets Don José, gilt als selbstverständlich; aber wann hat man solche Differenzierung bei ein und demselben Sänger gehört?

Dieses Stilgefühl zeichnet auch seine Operetten-Aufnahmen aus: Bei Gedda hört man sofort, was die „goldene“ von der „silbernen“ Operette oder was den frühen vom späten Lehár unterscheidet. Warum er nur selten Operette auf der Bühne gesungen hat (u. a. den Zigeunerbaron an der Met und den Sou-Chong im Land des Lächelns an der Wiener Volksoper) hat Gedda in seinen Memoiren dargelegt: „Operette ist schwieriger als Oper. Dort gibt es viel gesprochenen Dialog, und dann wird verlangt, dass man auch gut Theater spielen kann.“ Dass er auch den Dialog souverän beherrschte, hört man schon in seiner allerersten Operetten-Serie, in den legendären Aufnahmen mit Elisabeth Schwarzkopf, die Walter Legge 1953 und 1954 produzierte. Aus dieser Serie stammt der vorliegende Auszug aus Lehárs Land des Lächelns: Das Finale des 2. Aktes, das Gedda mit einem hohen Des krönt (CD 2, Track 18).

Neben Highlights aus vielgerühmten Gesamtaufnahmen bietet die vorliegende Sammlung auch etliche Raritäten, die jetzt erstmals auf CD erscheinen: Einzel-Aufnahmen in schwedischer Sprache und drei bislang unveröffentlichte Titel aus dem Privat-Archiv des Sängers (1955-62). Es sind echte Fundstücke, die ich auf der einsamen Insel ebenso wenig missen möchte wie die schwedischen Operetten-Aufnahmen von Jussi Björling.

Thomas Voigt, C 2006