Thomas Voigt
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Mozart: Don Giovanni

Live Recording, Köln 1960 (sung in )

Cast  , Fritz , Elisabeth , , , , , , , ,

Artistic Supervsion, Liner Notes 
Released  2009
CD 

 

„Augen zu, Ohren auf“

Die Vorgeschichte zu dieser Veröffentlichung begann mit einem Interview, das ich im Frühjahr mit Wolfgang Sawallisch führte; Thema war seine Zusammenarbeit mit  Hermann Prey. Sehr anschaulich beschrieb Sawallisch die erste gemeinsame Opernproduktion, Don Giovanni in Köln. Es sei ein außergewöhnlich gutes Ensemble gewesen. Ob es davon vielleicht einen Mitschnitt geben könnte? Da wenige Wochen zuvor das Kölner Stadtarchiv eingestürzt und somit ein Stück Weltkulturerbe in Grund und Boden versunken war, konnte ich nur hoffen, dass das Tonarchiv der Kölner Oper noch existierte. Ein Gespräch mit dem Tonmeister Stefan Reich brachte Gewissheit: Alle Mitschnitte, die seit der Eröffnung des Opernhauses am 18. Mai 1957 entstanden sind, befinden sich im Archiv der Kölner Oper, und der gesamte Bestand wurde in den letzten Jahren digitalisiert. Zwar waren die Originalbänder lediglich mit einem Aufnahmedatum versehen, doch Dank der ehrenamtlichen Arbeit eines Opern-Enthusiasten konnten die vollständigen Angaben anhand der Programmhefte und Besetzungszettel rekonstruiert werden.

Und so enthielt die Liste auch tatsächlich jenen Don Giovanni aus dem Jahr 1960, von dessen Existenz noch nicht einmal die beteiligten Sänger wussten. Freundlicherweise machten mir die Tonmeister der Kölner Oper eine Kopie – und das erste Anhören dieses Fundes war in jeder Hinsicht spannend: mit gedrückten Daumen saß ich vorm Lautsprecher, immer darauf gefasst, dass die Musik plötzlich abreißen oder irgendein Störgeräusch an zentraler Stelle das kostbare Dokument entwerten könnte. Zum Glück nichts dergleichen: Die Aufnahme ist komplett, das Klangbild für einen fast 50 Jahre alten Hausmitschnitt erstaunlich präsent. Sicher, es gibt einige Bühnengeräusche und Balance-Verschiebungen: Mitunter sind die Sänger zu nah, dann wieder zu weit weg. Die Inszenierung von Oscar Fritz Schuh erforderte viel Aktion von den Darstellern, die sich noch dazu sehr oft auf Laufstegen bewegten. Das mag beim bloßen Anhören hin und wieder stören, macht aber andererseits einen Teil der spezifischen Atmosphäre aus: Man sitzt als Hörer quasi mitten drin im Kölner Opernhaus.

Wie Anfang der 1960er Jahre üblich, wurde damals deutsch gesungen. Das mag für heutige Ohren manchmal holprig klingen (vor allem in den rasanten Dialogen zwischen Giovanni und Leporello), hat aber einen unüberhörbaren Vorteil: Man versteht über weite Strecken jedes Wort. Der Text entspricht zu 95 Prozent der Schünemann-Soldan-Ausgabe von 1940 (Edition Peters), nur an wenigen Stellen gibt es Abweichungen, am deutlichsten zum Ende der Szene von Donna Anna und Don Ottavio (CD 1, Track 4): Eigentlich sollten die letzten Zeilen unisono klingen, doch singen Elisabeth Grümmer und Fritz Wunderlich unterschiedliche Texte, die in den Endsilben kollidieren. Dass Hermann Prey statt des traditionellen „Reich mir die Hand, mein Leben“ „für’s Leben“ singt, klingt eher nach Regie-Einfall während der Proben.

Die „Internationalisierung“ des Opernbetriebs steckte 1960 noch in den Anfängen. Ob Verdi, Puccini und Mozart/da Ponte in original-italienisch oder in Übersetzung gegeben wurden, hing von der Vorliebe der Dirigenten und Intendanten ab. Wilhelm Furtwängler hatte den Don Giovanni schon 1950 bei den Salzburger Festspielen in Originalsprache singen lassen, Karl Böhm bevorzugte bei der Wiedereröffnung der Wiener Staatsoper 1955 die deutsche Fassung. Herbert von Karajan, Böhms Nachfolger als Direktor der Wiener Oper, setzte die Originalsprache durch, nicht zuletzt mit Blick auf seine Platten-Produktionen.

Während der Ära von Oscar Fritz Schuh und Wolfgang Sawallisch (1960-64) hielt man in Köln noch an der deutschen Fassung fest. Oscar Fritz Schuh (1904-1984) war damals Intendant und Regisseur in Personalunion. Als Regisseur gehörte er zu den bedeutendsten seiner Generation; noch heute schwärmen Sänger von seiner Kunst der Personenführung. Seine Inszenierung des Don Giovanni fand indes bei Presse Publikum ebenso wenig Anklang wie die „Brecht’schen“ Bühnenbilder von Caspar Neher: zu abstrakt, zu wenig sinnlich. „Augen zu, Ohren auf“, titelte ein Kritiker und lenkte damit die Aufmerksamkeit seiner Leser auf das erstklassige Sänger-Ensemble, das im „Schuh-Haus Sawallisch“ geboten wurde.

Im Focus des Interesses standen die Rollen-Debüts von Hermann Prey (1929-1998) und Fritz Wunderlich (1930-1966). Spätestens seit der Fernsehübertragung des Barbier von Sevilla aus dem Cuvilliestheater in München (26.12.1959) galten die beiden als das neue „Erfolgsgespann“ der deutschen Opernszene. Das Ungewöhnliche in Preys Darstellung der Titelpartie hat Wolfgang Sawallisch in seinem Grußwort beschrieben; ungewöhnlich dürfte für viele Hörer auch der klangliche Eindruck gewesen sein. Wer Cesare Siepi und George London im Ohr hatte, musste die Besetzung mit Prey als bewusste Absage an das vertraute Klang-Ideal empfinden: Kein basso cantante, kein dämonischer Sound, sondern ein heller, schlanker Bariton. Kein singendes Erotikon, sondern ein „junger Wilder“, der seine Aggressivität nur in Gelegenwart attraktiver Frauen bändigt. Bewundernswert, wie konsequent Prey mit alten Hörgewohnheiten bricht, vor allem in den Rezitativen.

Georg Stern (1921-1980) ist ein starker Gegenspieler. Der Bassist, der damals zum Ensemble der Kölner Oper gehörte, ist wohltuend weit entfernt vom Rollen-Klischee: Keine Buffo-Type, sondern ein Individualist, der im Dienst seines Herrn zum Zyniker geworden ist.

Als Ottavio bestätigt Fritz Wunderlich einmal mehr, was der Wiener Journalist Karl Löbl über seine Aufnahmen sagte: „Er singt deutsch, aber es klingt italienisch“. In den Kantilenen strömt die Stimme mit endlosem Atem, und bei aller Wortdeutichkeit singt er auch in den Rezitativen und Ensembles immer mit „italienischem“ Legato. Sein großes Vorbild im Mozartfach war Anton Dermota; und wie dieser hat auch Wunderlich bei der Figur des Don Ottavio die traditionelle Auffassung in Frage gestellt. Viele Sänger haben den Verlobten Donna Annas als „Softie“ dargestellt, als einen, der lieber redet statt handelt. Bei Wunderlich glaubt man, dass er auch zupacken kann, man traut ihm durchaus zu, den Mörder des Komturs zur Strecke zu bringen. Und wenn Wunderlich sie singt, wirken die beiden Arien keineswegs wie schöne Worte, denen keine Taten folgen; vielmehr spürt man hier die große Liebe des Mannes, der den Schmerz seiner Verlobten wirklich nachempfinden kann.

Dass seine Verlobte im realen Leben fast 20 Jahre älter ist, wird einem beim Hören niemals bewusst. Elisabeth Grümmer (1911-1986) klingt erstaunlich jung und ist der vokale Inbegriff einer schönen, empfindsamen Seele. Wie auch die berühmte Film-Version von den Salzburger Festspielen 1954 belegt, war sie in jenen Jahren die führende Sängerin der Donna Anna. Ihre Aufnahmen von Freischütz, Lohengrin und Meistersinger gelten nach wie vor als Maßstab für höchste Gesangskultur.

Wie Wunderlich und Prey hatte auch Franz Crass (*1928) innerhalb weniger Jahre den Weg nach oben geschafft: 1956 Start in Hannover, 1959 Debüt in Bayreuth. Seine Gestaltung des König Heinrich in Lohengrin wurde als „Bayreuther Belcanto“ gefeiert, Wieland Wagner übertrug ihm daraufhin die Titelrolle im „Fliegenden Holländer“. Mit seiner reichen, warmen Stimme sang er bis Anfang der 1980er Jahre das große Baßfach. Als Sarastro und Gurnemanz kam er dem Ideal so nahe wie nur ganz Wenige. Als Komtur ist er auch in der Don Giovanni-Aufnahme unter Otto Klemperer dokumentiert.

Entgegen der damals üblichen Besetzungspraxis klingt Donna Elvira diesmal ungewöhnlich dunkel und dramatisch. Hildegard Hillebrecht (*1927) war keine geborene Mozartsängerin, sondern eine Stimme für das große Verdi- und Strauss-Fach. Begonnen hatte sie 1951 mit der Troubadour-Leonore in Freiburg, sie war Karajans Chrysothemis in der Salzburger Elektra und Böhms Ariadne, sie sang Tosca, Amelia, Marschallin und Kaiserin an führenden Opernhäusern. Unvergessen bleibt ihre berührende Gestaltung der Jenufa neben Astrid Varnay als Küsterin (München 1971).

Mit 22 Jahren war Edith Mathis (*1938) damals die Jüngste im Ensemble. Sie hatte mit 18  in Luzern als zweiter Knabe in der Zauberflöte debütiert, mit 20 bereits ihre ersten Aufnahmen gemacht. Früh begonnen haben damals etliche Sänger, doch nur ganz wenige waren in diesem Alter schon so weit wie sie. Und es hätte schon einiges schief gehen müssen, wenn sie mit diesem Talent nicht Weltkarriere gemacht hätte. Immerhin blieb sie vier Jahre in Köln, wo sie nach eigener Aussage eine „hervorragende Opernschule“ erlebte: Learning by doing. 1963 wechselte sie zur Deutschen Oper Berlin, und von dort aus ging es in die Welt.

Für Hans-Georg Knoblich (1933-2008) war die Kölner Oper die erste Station. Er hatte dort 1959 als Masetto in Don Giovanni debütiert, später sang er auch die Partie des Leporello. Nach Köln waren Aachen, Saarbrücken, Kassel und Lübeck seine Stammhäuser. Plattensammler kennen seinen Namen von der Martha-Aufnahme mit Anneliese Rothenberger; nach dieser und der vorliegenden Einspielung zu urteilen, hätte er durchaus das Zeug für eine größere Karriere gehabt.

Wolfgang Sawallisch (*1923), damals der Shooting Star unter den deutschen Dirigenten, animiert das Gürzenich Orchester zu markantem Spiel mit viel „Drive“. So ist Giovannis Arie „Auf denn zum Feste“ mit einer Dauer von 1 Minute und 15 Sekunden eine der rasantesten Versionen auf CD. Die Artikulation des Orchesters klingt für damalige Zeiten sehr modern: akzentuierte Klangrede, kompromisslos bis zum „Aufschrei“ (etwa wenn Donna Anna in Don Giovanni den Mörder ihres Vaters erkennt) – ein weiterer Beleg dafür, dass es schon einige Jahre vor der „Originalklang-Bewegung“ Aufführungen gab, die vom damaligen Klang-Ideal abrückten: Mozart ohne Weichzeichner.

Thomas Voigt, © 2009