Berlin-Wiener Treffen in Köln
Was würden Rundfunk- und Plattenproduzenten darum geben, wenn sie heute in einer ähnlichen Situation wären wie Karl O. Koch Anfang der 50er Jahre. Der langjährige Leiter der Musikabteilung des WDR war damals in der glücklichen Lage, mit erstklassigen Künstlern große Teile des Standardrepertoires einzuspielen. Prominente Künstler waren noch bezahlbar, und auf dem Plattenmarkt gab es selbst von populärsten Werken höchstens ein bis zwei Versionen. Als er im Mai 1951 im neuen Sendesaal des WDR Mozarts Figaro aufnahm, existierte lediglich die Glyndebourne-Aufnahme von 1934 unter Fritz Busch (die Karajan-Aufnahme, die Walter Legge im Oktober 1950 mit dem Wiener Mozart-Ensemble produzierte, lag zu dieser Zeit noch auf Eis).
Und anders als seine Kollegen von der Platten-Branche war Koch in seiner Besetzungs-Fantasie nicht durch Exklusivverträge eingeschränkt; er konnte sich nach Herzenslust das ihm vorschwebende Ideal-Team zusammenstellen. Aus Berlin holte er Ferenc Fricsay, Elisabeth Grümmer und Anny Schlemm, aus Wien Hilde Güden, Erich Kunz und Paul Schöffler.
Bei einem Auslandsgastspiel hätte diese Konstellation unter Umständen nicht mehr ergeben als eine Addition guter Einzelleistungen; bei der vorliegenden Aufnahmen aber wirkt das Ganze aus einem Guß: Vor allem beim heiklen Finale II klingt es so, als sei das Ensemble seit Jahren aufeinander eingespielt. Tatsächlich war das nur der Fall bei den Sängern aus Wien, die zu diesem Zeitpunkt unzählige gemeinsame Auftritte hinter sich hatten. Dies waren die „goldenen“ Jahre des Wiener Opern-Ensembles „im Exil“. Die Staatsoper war zerstört, und so wurde mit vereinten Kräften innerhalb kürzester Zeit das halb verrottete Theater an der Wien als Ausweichquartier hergerichtet. Die Akustik dieses Hauses bot einen nahezu idealen Rahmen für den kammermusikalischen Mozart-Stil, den Josef Krips und seine Sänger prägten. Zeitzeugen schwärmen noch heute von der Geschlossenheit jener Aufführungen, die mit dem Umzug des Ensembles in die wieder eröffnete Staatsoper (November 1955) verloren ging. Da aus den Jahren im Theater an der Wien keine Mitschnitte von Mozart-Aufführungen erhalten sind, kann man sich nur anhand diverser Studio-Aufnahmen ein ungefähres Bild vom Wiener Mozart-Stil machen. Als eindrucksvoller Beleg für das kammermusikalische Zusammenspiel der Sänger kann Karajans Figaro-Aufnahme von 1950 gelten, wenngleich die Rezitative fehlen und das Ensemble von der gewohnten deutschen Fassung auf Italienisch umlernen musste. Auch Fricsays WDR-Aufnahme bietet über weite Strecken einen Eindruck vom Wiener Mozart-Stil.
In beiden Einspielungen wurde die Titelpartie mit Erich Kunz (1909-1995) besetzt. Dass er jahrzehntelang der Inbegriff des Figaro war, wird schon durch die Aufführungs-Chronik der Wiener Staatsoper bestätigt: Zwischen dem 21. Juli 1945 und dem 26. Januar 1965 sang er die Rolle in 338 (!) Aufführungen. Seine Susanna war in den ersten Jahren zumeist Irmgard Seefried, später folgten Hilde Güden, Emmy Loose, Rita Streich, Anneliese Rothenberger, Graziella Sciutti und Reri Grist. Seine Gegenspieler als Graf waren im Theater der Wien meist Alfred Poell und Paul Schöffler. Ganz in seinem Element war Kunz als Papageno in der Zauberflöte; als Inkarnation Wiener Komödiantentums bot er im Dialog immer wieder neue Improvisationen – zum Entzücken des Publikums, und oft zum Schrecken seiner Partner. Wie flexibel Kunz seinen wohlklingenden Kavaliersbariton führen konnte, zeigen seine Aufnahmen so konträrer Partien wie Danilo und Beckmesser: Hier der elegante Charmeur, dort der verklemmte Erbsenzähler – und beide Male ist Kunz völlig eins mit der Figur. Dass er auch ein großartiger Schauspieler war, zeigt vor allem die Aufnahme von Wiener Blut unter Robert Stolz. Wie er da, in der Rolle des Kagler, die Güden als vermeintliche „Maitresse“ des Grafen runterputzt, hat Nestroy-Format.
Hilde Güden (1917-1988) gehörte zu den wenigen Sängerinnen, die mit großem Erfolg alle drei Sopranpartien im Figaro gesungen haben. Wobei der Cherubin eher ein Seitensprung war, den sie später, als sie längst schon die Susanna sang, Wilhelm Furtwängler zuliebe in Salzburg wiederholte (die Susanna jener Aufführung war Irmgard Seefried). Fünf Jahre nach der WDR-Produktion sang sie die Susanna auch in der Gesamtaufnahme unter Erich Kleiber, die unter Connaisseurs heute noch als Referenz gilt. Die Gräfin, die sie zwischen 1963 und 1970 hauptsächlich an der Wiener Staatsoper sang, verkörperte Hilde Güden in der deutschsprachigen Gesamtaufnahme unter Otmar Suitner (neben Walter Berry und Anneliese Rothenberger). Dass die Wienerin sehr sprachbegabt war und als echte „K.u.K.-Mischung“ auch italienisches Blut in den Adern hatte, kam ihr nach dem Krieg sehr zugute. Sie gehörte zu den wenigen deutschsprachigen Sängern, die auch in italienischen und französischen Partien international gefragt war. Allein an der Metropolitan Opera sang sie dreizehn Partien in vier Sprachen: Euridice, Zerlina, Susanna, Norina, Gilda, Musette, Mimi, Micaela, Marguerite, Rosalinde, Sophie, Zdenka und Ann Truelove (in der amerikanischen Erstaufführung von Strawinskys The Rake’s Progress). Anders als viele Sängerinnen des lyrischen Koloraturfachs erfüllte die Güden bei aller darstellerischen Vitalität nie das Klischee des „niedlichen Püppchens“. Damenhafte Eleganz und eine Prise Pfeffer waren auf ihrer Farbskala genauso zu hören wie Charme und Anmut – eine ideale Palette für die Rosalinde, mit der sie nicht nur in Wien jahrelang den Maßstab setzte.
Wenn von großen Persönlichkeiten die Rede ist (oder vom akuten Mangel derselben in heutiger Zeit), fällt sofort der Name Paul Schöffler (1897-1977). Auf die Frage nach unvergeßlichen Theater-Eindrücken hat Elisabeth Schwarzkopf wiederholt Schöfflers Darstellung des Almaviva und des La Roche genannt: „Allein, wie er als Almaviva das Werkzeug zur Hand nahm, um die Tür aufzubrechen! Da haben Sie sofort gesehen, dass dieser Graf nie in seinem Leben einen Hammer in der Hand gehalten hat. Und das kam von Schöffler selber, das hat ihm kein Regisseur beibringen müssen!“ Den Eindruck einer überragenden Bühnenpersönlichkeit bestätigen Video-Dokumente von Lulu (Wien 1960) und Ariadne auf Naxos (Aix-en-provence 1964). Schade nur, dass es von Schöfflers, zentraler Rolle, dem Sachs in den „Meistersingern“, keine Film-Aufnahmen gibt. Andererseits hat man, wenn man Schöffler nur hört, die Figur in Mimik und Gestik plastisch vor Augen.
„Schöne Seele“ hat Jürgen Kesting in seinem Sänger-Buch das Kapitel über Elisabeth Grümmer (1911-1986) betitelt. Kürzer und prägnanter lässt sich die unvergleichliche Ausstrahlung dieser Sängerin kaum beschreiben. Die Beseeltheit ihres Singens kam vor allem jenen Rollen zugute, die gern als „passiv“ und „leidend“ abgetan werden und in der Darstellung weniger inspirierter Sängerinnen schnell langweilig werden: Pamina, Agathe, Eva, Elsa – und auch die Figaro-Gräfin. In all diesen Rollen beeindruckte die Grümmer durch ihren mädchenhaften Klang, hervorragende Artikulation und eine unbedingte Ehrlichkeit des Singens. Dass diese große Sängerin als Mozart-Sängerin im Platten-Katalog unterrepräsentiert ist, hat firmenpolitische Gründe. Von der Electrola, der deutschen Tochter der EMI, wurde sie ausschließlich in Gesamtaufnahmen des deutschen Repertoires eingesetzt (Freischütz, Meistersinger, Tannhäuser, Lohengrin). Als Mozartsängerin ist sie lediglich in Einzel-Aufnahmen und Querschnitten dokumentiert; Mozart-Gesamtaufnahmen oblagen damals der EMI-Zentrale in London – und dort herrschte Walter Legge, der Ehemann von Elisabeth Schwarzkopf. Immerhin führte Legge die beiden Elisabeths in Karajans Aufnahme von Hänsel und Gretel zusammen. Als dann Ferenc Fricsay die Grümmer für seinen Mozart-Zyklus bei der Deutschen Grammophon haben wollte, konnte sie wegen ihres Vertrages bei EMI-Electrola nicht annehmen. Um so größere Bedeutung kommt der vorliegenden WDR-Produktion zu, die meines Wissens das einzige komplette Dokument von Grümmers Figaro-Gräfin ist.
Als Anny Schlemm (*1928) im Februar 2002 an der Wiener Staatsoper die Partie der Alten Buriya in der Neuinszenierung von Janaceks Jenufa sang, dürfte vor dem geistigen Auge einiger Zuschauer ein ganze Galerie unterschiedlichster Gestalten vorbeigezogen sein: Boulotte und Butterfly, Zerline und Witwe Begbick, verkaufte Braut und Küsterin, Ännchen und Filipjewna, Pamina und Herodias, Manon Lescaut und Knusperhexe und, und, und… Für all das, was Anny Schlemm seit ihrem Bühnendebüt (1948 in Halle) verkörpert hat, braucht man eigentlich zwei Sängerleben. Neben der enormen Wandlungsfähigkeit dokumentieren viele Aufnahmen der Künstlerin auch einen Sonderfall von Frühreife. Als sie in Fricsays RIAS-Aufnahme der Fledermaus als Rosalinde einsprang, war sie gerade mal 21 Jahre – und klingt so souverän, als hätte sie die Partie schon jahrelang gesungen. Und dass aus der burschikosen Sängerin, die in Köln unter Fricsay den Cherubin, unter Fritz Busch den Oscar und unter Marszalek jede Menge Operette sang, einmal eine bedeutende Klytämnestra werden sollte, wäre 1951 wahrscheinlich niemandem im Traum eingefallen.
Wie es damals üblich war, sind auch die Partien der drei „Drahtzieher“ groß besetzt. Lillian Benningsen (*1924) gehörte damals noch zum Kölner Opern-Ensemble, wechselte nach erfolgreichem „Gastspiel auf Anstellung“ wenige Monate später ins Münchner Ensemble, dem sie Jahrzehnte lang angehörte. Ähnlich wie bei ihrer Wiener Kollegin Elisabeth Höngen reichte ihr Spektrum von kleinen Charakterpartien bis zur horrend schweren Rolle der Amme in Die Frau ohne Schatten, die sie 1954 in Rudolf Hartmanns bahnbrechender Inszenierung verkörperte. Die Partie der Marzelline sang sie später auch in Fricsays Platten-Aufnahme mit Fischer-Dieskau, Stader, Sardi und Seefried.
Plattensammler dürften Wilhelm Schirp (1906-1974) vor allem von der Maskenball-Aufnahme unter Fritz Busch kennen, die drei Monate vor dem „Figaro“ entstand. In beiden Einspielungen setzt der Bassist mit wuchtiger Stimme und prägnanter Diktion starke Akzente, und man kann sich nach der „Rache“-Arie des Bartolo lebhaft vorstellen, wie er als Hagen geklungen hat (in dieser Partie gastierte er u. a. 1938 in London). Auf Platten wesentlich besser repräsentiert ist Paul Kuen (1910-1997), vor allem in seiner Glanzrolle als Mime. Wie unzählige CD-Ausgaben der ersten Ring-Zyklen in Neu-Bayreuth dokumentieren, gestaltete Kuen diese Partie mit einer Stimmkraft und Präsenz, die manchem Siegfried das Fürchten lernte. Dass er aber auch mit den feineren Nuancen des Charakterdarstellers gestalten konnte, zeigt das Rezitativ Susanna-Basilio in der vorliegenden Aufnahme.
Ferenc Fricsay (1914-1963) galt zum Zeitpunkt der Produktion als shooting star unter den neuen Dirigenten der Nachkriegszeit. Sein internationaler Durchbruch erfolgte 1947 mit der Uraufführung von Gottfried von Einems Dantons Tod, die er in letzter Minute anstelle des erkrankten Otto Klemperer übernahm. „Entdeckt“ wurde er von Elsa Schiller, jener Produzentin, deren Platten-Ausgabe der Faust-Produktion von Gustaf Gründgens den Slogan Faust, Schillers größtes Werk kreierte. Damals war sie noch Leiterin des Bereichs Ernste Musik im RIAS und suchte nach einem Chefdirigenten für das RIAS-Symphonie-Orchester. Auf ihr Betreiben hin wurde Fricsay gleich in zwei Führungspositionen nach Berlin berufen: Als Chef des RSO und als GMD der Städtischen Oper. Mit Schillers Wechsel vom RIAS zur Deutschen Grammophon begann 1951 die große Platten-Karriere Fricsays; seine Aufnahmen bildeten in den 50er und 60er Jahren den Basis-Katalog des Labels. Als Mozart-Interpret war Fricsay damals der Inbegriff des „modernen“ Interpreten: In den Tempi schnell bis rasant (in diesem Punkt kommt sein Figaro der Lesart Karajans sehr nahe), in der Artikulation sehr präzis, im Ausdruck lebhaft, doch nicht zu gefühlig. Dass die vorliegende Aufnahme gegenüber der späteren DG-Produktion stilistisch geschlossener wirkt, liegt vor allem an der Besetzung.
Dass sie uns überhaupt erhalten blieb, ist der Ferenc-Fricsay-Gesellschaft zu danken, die sich nach dem frühem Tod des Dirigenten vom WDR ein Duplikat der Originalbänder anfertigen liess – offenbar in weiser Vorausahnung. Denn wie so manches wertvolle Dokument (zum Beispiel die Jenufa mit Margarete Klose oder die Ariadne mit Martha Mödl als Komponist) wurden auch die Originalbänder von Fricsays Figaro-Aufnahme später einfach „gelöscht“. Warum im WDR Weltkulturerbe mutwillig vernichtet wurde und auf wessen Weisung dies geschah, ist heute natürlich nicht mehr zu eruieren. Um so dankbarer muss man sein, dass längst ein anderes Bewusstsein im Umgang mit historischen Dokumenten herrscht – auch in den Anstalten des öffentlichen Rechtes.
Thomas Voigt (c) 2005