Thomas Voigt
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Händel: Alcina

Vom Notfall zum Traumpaar

Es hätte ein „Traumpaar“ werden können – vor allem im Mozart- und Belcanto-Repertoire. Theoretisch hätte es solche Sternstunden auch geben können, in London, in Wien, an der Met in New York. Doch es sollte nicht sein. Und da sie beide exklusiv an verschiedene Plattenfirmen gebunden waren, kam es auch zu keiner gemeinsamen Plattenaufnahme. Nur ein einziges Mal sind Joan Sutherland und Fritz Wunderlich gemeinsam auftreten: bei der vorliegenden Aufführung von Händels Alcina im Sendesaal des WDR. Die Aufführung wurde als „Ereignis des Händel-Jahres“ 1959 gefeiert. Was damals nur wenige wussten: Um ein Haar wäre die Aufführung geplatzt; das „Traumpaar“ Sutherland/Wunderlich hatte sich aus purer Not gefunden, sie waren beide in letzter Minute eingesprungen.

Dabei schien anfangs alles glatt zu laufen – bis zur ersten Solistenprobe am 9. Mai 1959. Der Tenor Nicola Monti, der dem Kölner Publikum vom Callas-Scala-Gastspiel mit La Sonnambula noch in guter Erinnerung war, hatte irrtümlich die falsche Partie gelernt: Oronte statt Ruggiero. In den verbleibenden fünf Tagen die größere Partie nachzulernen, traute er sich nicht zu; hinzu kam, dass der Part des Ruggiero, den Händel für den Kastraten Carestini geschrieben hat, für die Kölner Aufführung in eine Lage transponiert werden musste, die für einen hohen lyrischen Tenor eindeutig zu tief ist. Auch für Fritz Wunderlich, den Sänger des Oronte, lag sie nicht gerade ideal; doch nahm er die Herausforderung gern an, ging mit dem Alte-Musik-Experten und Cembalisten Fritz Neumeyer sofort in Klausur und hatte die Partie nach zwei Tagen intus.

Während er noch fleißig lernte, bahnte sich die nächste Krise an: Die Sängerin der Titelpartie, eine spanische Sopranistin, hatte derart mit Intonationsproblemen zu kämpfen, dass man sie aus ihrem Vertrag entließ. Eine künstlerisch notwenige Entscheidung, doch eine höchst riskante: Denn nur noch eine Einzige gab es damals, die die Rolle überhaupt drauf hatte: Joan Sutherland. Sie hatte Alcina zwei Jahre zuvor in London gesungen – auf Englisch. Glücklicherweise hatte sie Zeit und war auch bereit, ihren Part auf Italienisch umzulernen. Durch diesen Notfall kam zur einmaligen und einzigen Konstellation Sutherland/Wunderlich.

Doch nicht nur als Sänger-Dokument ist diese Alcina ein Unikat. Sie ist die erste (wenn auch nicht vollständige) Aufnahme der Oper, und sie dokumentiert die Pionierzeit der historischen Aufführungspraxis in Deutschland. Denn wir hören hier nicht das Rundfunk-Sinfonie-Orchester des WDR, sondern die Cappella Coloniensis, das weltweit erste Orchester, das auf historischen Instrumenten spielte und sich um möglichst stilgetreue Aufführungen bemühte. Welche Beachtung das Ensemble damals fand, zeigt schon die Tatsache, dass zum ersten Konzert (am 18. September 1954) nicht nur renommierte Musiker und Musikwissenschaftler kamen, sondern auch der damalige Bundespräsident Theodor Heuss und der Vater des Wirtschaftswunders, Ludwig Erhard.

Die Gründungsväter der Cappella waren allesamt Pioniere der „Alte-Musik-Bewegung“: Der Cellist und Dirigent August Wenzinger, der Flötist Gustav Scheck und der Cembalist Fritz Neumeyer. Die Drei kannten sich seit Jahrzehnten und hatten oft zusammen musiziert. Vierter im Bunde war Eduard Gröninger, Musikwissenschaftler am WDR. Die Besetzung des Orchesters ergab sich fast von selbst, meist waren es Kollegen und Schüler aus dem „Scheck-Wenzinger-Kreis“.

Allen gemeinsam war eine grenzenlose Begeisterung für die Sache: Endlich stimmten die Rahmenbedingungen für ihr gemeinsames Steckenpferd, die Erforschung der Alten Musik. Viele von ihnen arbeiteten hauptberuflich in „normalen“ Sinfonie- oder Opernorchestern, und das Vergnügen, in der Cappella zu spielen, war ihnen so viel wert, dass sie aus eigener Tasche einen Substituten bezahlten, wenn die Termine in Köln mit den täglichen Orchesterdiensten kollidierten.

Bei der konzertanten Aufführung von Alcina waren neben Scheck und Neumeyer einige bedeutende „Solisten“ im Orchester, unter anderem Hans-Martin Linde (Flöte) und Helmut Winschermann (Oboe). Am Dirigentenpult stand diesmal nicht August Wenzinger, sondern Ferdinand Leitner, der Stuttgarter Generalmusikdirektor. Nach zahllosen Wagner-Aufführungen im „Winter-Bayreuth“ war ihm die Arbeit in Köln  willkommene Abwechselung und Bereicherung. Laut Zeitzeugen war er am Pult der Cappella wesentlich entspannter als in Stuttgart. Außerdem hatte er ein Faible für Händel und war an stilgerechten Aufführungen seiner Musik sehr interessiert.

Gemeinsam mit Eduard Gröninger und Karl O. Koch, dem Chefproduzenten des WDR für Klassische Musik, stellte Leitner das Sängerteam für Alcina zusammen. Nicht nur die tiefere Stimmung des Orchesters erforderte große Sorgfalt bei der Auswahl, sondern vor allem die neuen Anforderungen hinsichtlich der musikalischen Artikulation. Es ist klar, dass hier nur Sänger in Frage kamen, die bereits über Erfahrungen im Umgang mit dem „richtigen“ Stil verfügten. Dazu gehörten die Altistin Norma Procter, die sich schon in jungen Jahren als erstklassige Konzertsängerin qualifiziert hatte, die holländische Sopranistin Jeanette van Dyck und der englische Bariton Thomas Hemsley, dessen Laufbahn 1951 mit Purcells Dido and Aeneas begonnen hatte.

Wenn man den Mitschnitt hört, ist von der nervenaufreibenden Vorgeschichte nichts zu spüren. Sutherland und Wunderlich harmonierten so gut mit den Sängerkollegen und dem Orchester, als wären sie seit langem aufeinander eingespielt. Zudem war „historisch informiertes Musizieren“ für sie kein Fremdwort. Fritz Wunderlich hatte schon in seinen Studienjahren oft im „Scheck-Wenzinger-Kreis“ musiziert, und Joan Sutherland war schon durch die Arbeit ihres Ehemannes Richard Bonynge mit den zentralen Aspekten von Stil und Aufführungspraxis vertraut.

„Dennoch wirkte sie auf uns wie aus einer anderen Welt“, erinnert sich Eva Wunderlich, die Witwe des Sängers. „Sie war der Inbegriff der Primadonna. Als Karl O. Koch, der Produzent der Aufnahme, sie vom Flughafen abholte, erschien sie mit einem Riesen-Hut, der kaum in das kleine Auto passte. Ebenso prachtvoll war das Abendkleid, das sie beim Konzert trug. Und dann noch diese majestätische Stimme! Ein unvergeßlicher Eindruck.“

Man stelle sich vor, dass statt einer zierlichen Turnerin plötzlich eine Amazone aufs Hochseil geht und dort so virtuos auf der Spitze tanzt, dass alles vor Staunen den Atem anhält. So ähnlich muss der „Thrill“ für die damaligen Hörer gewesen sein, als sie Joan Sutherland als Alcina hörten – wie konnte es sein, dass eine derart üppige Stimme so mühelos die schwierigsten Verzierungen hervorbrachte?

Dass Fritz Wunderlich sich nicht auf den herrlichen Klang seiner Stimme verließ, dass er selbst als Einspringer ein ebenbürtiger Partner der Diva sein konnte, zeugt von einer ungeheuren Energie und einer beneidenswerten Musikalität. In seinem Buch “Legendary Voices” berichtet der Tenor Nigel Douglas: „He had some half dozen highly complex arias to sing, and he had never seen or heard the music before, but I remember being told by the British baritone Thomas Hemsley, who was also in the cast, that Wunderlich did not only read the part faultlessly but also sang it with the utmost finesse of phrasing and interpretation.“

Thomas Voigt (C) 2008