Thomas Voigt
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Gerard Souzay Liederabend 1960

Repertoire , Martin, Ravel,
Pianist  Dalton Baldwin

Recorded Schwetzinger Schloss, 25.5.1960
Liner Notes 
Released  2012
CD  hänssler classic

 

Stilsicherer Lyriker: Gérard Souzay

„Ich kann nur hoffen, dass ich bei den Mélodies und Chansons den Inhalten so nahe gekommen bin wie er bei den Liedern von Schubert und Schumann.“
Dietrich Fischer-Dieskau über Gérard Souzay

Sie gehörten beide zu den großen Sänger-Entdeckungen der Nachkriegszeit und spielten zur gleichen das große deutsche Liedrepertoire ein. Da waren Vergleiche unvermeidlich. Und schon bald wurde in der Fachpresse polarisiert: Hier Fischer-Dieskau, der „Hohepriester“ des Liedgesangs – dort Souzay, der feinsinnige Lyriker. Von solchen Schwarzweiß-Bildern scheint man inzwischen abgerückt zu sein: Man freut sich, zwei so unterschiedliche Exponenten des Liedgesangs aus derselben Epoche in einer Vielzahl von Aufnahmen hören zu können und sieht sich keineswegs genötigt, für einen von beiden Partei zu ergreifen.

Wozu dann den Vergleich nochmals thematisieren? Er zeigt, welchen Stellenwert Gérard Souzay in seiner besten Zeit als Liedsänger hatte. Er galt als Konkurrent, als Gegenpol zum „König“ des Liedgesangs. Was zeichnete ihn aus, dass er mit Fischer-Dieskau in Konkurrenz treten konnte? Zunächst eine bildschöne, geschmeidige Stimme, die sich mühelos verströmte. Dann eine Legatokultur, die ihresgleichen suchte. Da gab es, selbst bei den Konsonantentrauben der deutschen Sprache, kaum eine Phrase, in der die Bewegung des Klanges ins Stocken geriet. Nicht zu vergessen: Sicherer Instinkt für den jeweiligen Stil. Und vor allem hohe Sensibität für musikalische und textliche Nuancen. Das Erstaunlichste und historisch vielleicht Bedeutendste an Souzay: Er gehörte zu den ganz Wenigen, denen es gelang, die deutsch-französische Sprachbarriere zu überwinden. Wer sich etwas mit Gesangstechnik auskennt, weiß, was es heißt, wenn ein Franzose versucht, ein halbwegs idiomatisches Deutsch zu singen – und umgekehrt. Die Platzierung der Vokale und Konsonanten, der Vokalausgleich, das Singen in der „Maske“, voix mixte und messa di voce – all das auf die jeweils andere Sprache umzustellen, ist teuflisch schwer, wenn nicht gar unmöglich – es sei denn, man ist zweisprachig aufgewachsen.

Ob dies bei Souzay der Fall war, der am 8. Dezember 1918 in Angers (Provinz Anjou) zur Welt kam, habe ich nicht eruieren können. Sein Großvater väterlicherseits stammte aus dem Elsass, und möglicherweise wurden zu Hause beide Sprachen gesprochen. Obwohl ihm das Singen in die Wiege gelegt wurde (die Mutter und die 15 Jahre ältere Schwester waren Sängerinnen), wollte Souzay zunächst Schauspieler werden. Doch Pierre Bernac, seinerzeit die erste Kapazität in Sachen Liedgesang in Frankreich, riet dem 20jährigen nach einem Vorsingen, unbedingt die Stimme ausbilden zu lassen.

Am Conservatoire in Paris kam Souzay ab 1940 mit zwei weiteren Gesangs-Legenden in Kontakt: er ging in die Opernklasse von Jean-Émile Vanni-Marcoux und in die Liedklasse von Claire Croiza., deren Credo war: „Kein  noch so schöner Klang macht mir so viel Freude wie ein perfekt artikuliertes Wort.“ Dass Souzay dieser Maxime in seinen ersten Berufsjahren folgte, stieß nicht immer auf Gegenliebe. „Wie gut haben Sie meine Lieder gesprochen!“, meinte Reynaldo Hahn. Von Francis Poulenc, der dem jungen Bariton das dritte seiner „Lorca Chansons“ widmete, bekam er wiederum zu hören, „zu süss“ zu singen. Vor diesem Hintergrund kann man sich lebhaft vorstellen, dass Souzay eine Zeitlang brauchte, um die Balance zwischen Ton und Wort zu finden.

Nicht zuletzt aufgrund seiner Sprachbegabung (er sang im Laufe seiner Laufbahn Lieder in 15 Sprachen) wurde Souzay bald auch im Ausland bekannt. Die Decca nahm ihn exklusiv unter Vertrag, produzierte mit ihm ein breites Repertoire von Lied-Aufnahmen. Die Oper spielte in seinem Leben eher eine Nebenrolle. Nach seinem Bühnen-Debüt (1947 in Cimarosas „Il matrimonio segreto“ bei den Festspielen in d’Aix-en-Provence), trat er nur sporadisch in Opern-Produktionen auf, so als Orfeo in den Werken von Monteverdi und Gluck, als Mephistopheles in Berlioz‘ „La Damnation de Faust“, als Don Giovanni und als Graf in „Le Nozze di Figaro“. Mit dieser Partie gab er am 21. Januar 1965 sein Debüt an der Metropolitan Opera in New York. Warum dies zugleich sein letzter Auftritt war, darüber lässt sich nur spekulieren. Vielleicht machte er, wie viele europäische Sänger mit lyrischen Stimmen, den Fehler, in dem riesigen Zuschauerraum mehr Stimme geben zu wollen als ihm zur Verfügung stand. Seine erfolgreichste Opernpartie war der Golaud in Debussys „Pelléas et Mélisande“, die er unter der Leitung von André Cluytens auch aufgenommen hat.

Als Liedsänger war Souzay noch bis in die späten 1980er Jahre tätig. In seinen letzten Lebensjahren – er starb am 17. August 2004 in seinem Haus in Antibes an der Cote-d’Azur – widmete er sich hauptsächlich dem Unterricht und seiner zweiten Leidenschaft, der Malerei.

Der vorliegende Konzert-Mitschnitt aus dem Jahr 1960 dokumentiert den Sänger in seiner besten Zeit. Die Reihenfolge auf CD entspricht dem damaligen Konzert-programm. Da die ersten vier Schubert-Titel unauffindbar blieben, steht ein besonders beklemmendes Schubert-Lied am Anfang, „Der Zwerg“. Und allein wie Souzay dieses Miniatur-Drama gestaltet, rechtfertigt seinen Ruf als einer der bedeutendsten Liedsänger des 20. Jahrhunderts. Um so erstaunlicher, wie er gleich danach den leichten, sonnigen Ton für „Blumenlied“ und „Seligkeit“ findet. „An die Musik“ klingt bei ihm als „künstlerisches Credo“, fast in der stillen Intensität, wie man sie von den späten Liederabenden Lotte Lehmanns kennt. Wie auch der folgende „Jedermann“-Zyklus von Frank Martin und die späteren Strauss-Titel zeigen, ist sein Deutsch keineswegs akzentfrei und der Text nicht immer so sorgfältig artikuliert wie in vielen seiner Studio-Aufnahmen. Doch ist sein Vortrag von einer Dringlichkeit, der man sich kaum entziehen kann. Ganz in seinem Element ist Souzay bei den lautmalerischen Liedern von Maurice Ravel. Hier zeigt er sich einmal mehr als Meister der feinen Ton- und Wort-Kolorierung, als würdiger Nachfolger seines Lehrmeisters Pierre Bernac.

© Thomas Voigt 2012