Thomas Voigt
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Fritz Wunderlich – die frühen Jahre

 

Repertoire  La Boheme, Madame , (Highlights); , Martha, Der Waffenschmied, Undine, Der ngelimann, Der Liebestrank, , , , , , , , e Zirkusprinessin, Der Vetter aus ngsda, , , Friederike, Giuditta (Arias); Songs from , , , Liszt, Tschaikowsky, de Curtis, Capua, Lara etc;
Singers  , , , , , , Gisela Vivarelli, , , etc..
Conductors  Richard , , , , Werner -Boelke,
Pianist  Rolf

Recordings  Phonoclub Stuttgart, 1956-58
Liner Notes 
Released  2007
CD Box Sony (5 CDs)

„Die allererste Hauptrolle auf Platten – und nicht vorbereitet!“

Ein Theater-Ensemble, in dem der sattsam bekannte Satz „Wir sind eine große Familie“ noch Gültigkeit hat; ein Dirigent und ein Intendant, die mit väterlicher Fürsorge die Entwicklung ihrer Jüngsten verfolgen; ein Star-Tenor, der freiwillig eine kleine Partie übernimmt, damit ein Anfänger die Chance einer ersten Hauptrolle erhält – davon können die meisten Sänger heute nur noch träumen. Aber alles das hat es einmal gegeben, noch in den 50er und 60er Jahren war es an deutschen Theatern eher die Regel als die Ausnahme. Zugegeben: Nur selten dürften die Verhältnisse so gutartig gewesen sein wie in Stuttgart während der Ära von Walter Erich („Papa“) Schäfer und Ferdinand Leitner. Da gab es eben wirklich die „große Familie“ und eine besondere Fürsorge für Anfänger. Und da gab es eben auch den Fall, dass Wolfgang Windgassen, statt für den erkrankten Josef Traxel den Tamino zu übernehmen, im Betriebsbüro vorschlug, doch „den Neuen“ singen zu lassen. „Entschuldigung Herr Kammersänger“, protestierte der Betriebsdirektor, „aber wir können Ihnen doch nicht zumuten, dass ein Anfänger den Tamino singt und Sie nur die kleine Partie des Geharnischten!“ – „Warum denn nicht?“, erwiderte Windgassen, „Der muss doch auch mal ran. Also lasst ihn ruhig singen, das ist eine gute Gelegenheit“.

Der Anfänger hieß Fritz Wunderlich. Er hatte den Tamino bis dato drei mal gesungen, bei Aufführungen der Freiburger Musikhochschule im Juli 1954. Schon zu dieser Zeit war dem Stuttgarter GMD Ferdinand Leitner zu Ohren gekommen, dass es in Freiburg einen begabten jungen Tenor gab, „der übers Wochenende Tanzmusik macht, Jazz singt und Trompete bläst.“ Zusätzlich neugierig geworden durch die Empfehlung des Theateragenten Felix Ballhausen lud Leitner Wunderlich zum Vorsingen ein. „Das war eine ganz außergewöhnliche Stimme“, erinnerte sich Leitner Jahre später, „wenn auch mit vielen Einschränkungen. Zum Beispiel kiekste er. … Und er kiekste so oft, bis er zu weinen anfing und abgehen wollte. … In meinem Büro begann ich: ‚Also, Herr Wunderlich –  Aber er fiel mir sofort ins Wort: ‚Das war eben gar nichts!’ Ich mahnte ihn zur Ruhe: ‚Jetzt passen Sie mal auf! Sie mögen schon Recht haben. Dennoch: Ich gebe Ihnen einen Fünfjahresvertrag.’ Und da sagte er völlig entgeistert: ‚So etwas können nur Wahnsinnige tun.’“

Wahnsinn wäre es gewesen, ihn gleich mit Hauptrollen zu beschäftigen. Und so erhielt Wunderlich in seinen ersten Monaten in Stuttgart erstmal die übliche Anfänger-Diät: Einen der kleinen Meister in den Meistersingern, Heinrich den Schreiber in Tannhäuser und Rodrigo in Othello. Die oben erwähnte Zauberflöte am 18. Februar 1956 brachte das „eigentliche“ Debüt, einen Riesenerfolg beim Publikum wie auch innerhalb des Ensembles.

Aus dieser Zeit dürfte auch der erste reguläre Schallplatten-Vertrag stammen. Zwar hatte Wunderlich schon in seinen Studienjahren einige Rundfunk-Aufnahmen gemacht und bei einer Aufnahme von Monteverdis Orfeo mitgewirkt – doch das waren bisher Einzel-Projekte gewesen. Was man ihm jetzt anbot, war ein Dreijahresvertrag, der ihm monatlich 1000 Mark einbrachte. „Damit war es uns überhaupt erst möglich, eine Familie zu gründen“, erinnert sich Eva Wunderlich, „denn der monatliche Verdienst am Theater betrug gerade mal 400 Mark.“

Allerdings handelte es sich nicht um Produktionen einer Plattenfirma, sondern um Aufnahmen für den Europäischen Phonoclub Stuttgart, die ausschließlich für Club-Mitglieder produziert wurden. Anfang der 60er Jahre, als der Phono-Club von Bertelsmann übernommen wurde und Bertelsmann das Klassik-Label Eurodisc gründete, erschienen die frühen Aufnahmen Wunderlichs dann ganz regulär im Plattenhandel. Davon war Wunderlich damals gar nicht erbaut, hatte er sich doch binnen kürzester Zeit stimmlich und künstlerisch so sehr entwickelt, dass er zu seinen ersten Platten-Aufnahmen nicht mehr stehen konnte. Außerdem empfand er die Veröffentlichung dieser Aufnahmen als „Denkzettel“ des Produzenten Fritz Ganss: Mit ihm hatte er nach Ablauf des Phonoclub-Vertrages eine ganze Serie von Aufnahmen für die Electrola gemacht. Als Ganss dann mit Rudolf Schock und anderen Electrola-Künstlern zur Ariola-Eurodisc (Bertelsmann) wechselte, versuchte er, auch Wunderlich „mitzunehmen“. Doch weder äußerst lukrative Angebote noch die Aussicht, zentrale Rollen neu aufzunehmen, konnten Wunderlich locken. Er wollte eine Nische für sich. Bei EMI-Electrola hatte er sich das Terrain mit Rudolf Schock und Nicolai Gedda teilen müssen, und bei Eurodisc wäre wiederum Schock an erster Stelle gestanden. Deshalb entschied sich Wunderlich für die Deutsche Grammophon; dort war das Erbe von Peter Anders anzutreten, dort war er der einzige lyrische Tenor. Damit waren für Fritz Ganss alle Wunderlich-Pläne dahin, und so brachte er nach und nach Wunderlichs Phono-Club-Oeuvre bei Eurodisc heraus. Dazu zählten immerhin vier Opern-Querschnitte (La Bohème, Madame Butterfly, Cavalleria Rusticana und Die Zauberflöte), einige Arien und Operettenlieder, die üblichen Tenor-Hits von „O sole mio“ bis „Granada“ und eine Gesamtaufnahme der Schönen Müllerin.

Die Highlights aus diesen frühen Jahren sind auf der vorliegenden CD zu hören. Natürlich sind bei diesen Erst-Aufnahmen des 25jährigen jene „Einschränkungen“ zu hören, von denen Leitner berichtete; dass die Höhe manchmal nicht frei ist, wird allerdings mehr als aufgewogen durch all die Qualitäten, mit denen Wunderlich von Anfang an beeindruckte: Das unverwechselbare Timbre, die ungewöhnliche Musikalität, die Sensibilität und Vitalität seines Singens, die vorbildliche Artikulation. „Heute würde er diese Aufnahmen sicher mit anderen Ohren hören als damals“, meint Eva Wunderlich, „denn schließlich kann man anhand dieser frühen Dokumente nachvollziehen, wie in er sich innerhalb der zehn Jahre entwickelt hat, die zwischen diesen ersten und seinen späteren Aufnahmen liegen.“

An die allererste Aufnahme, den Querschnitt von La Bohème, erinnert sich die Eva Wunderlich Witwe ganz genau: „Sie fand am 26. August 1956 statt, am Tag nach unserer Hochzeit. Und er dachte, dass er lediglich die Arie und das Duett mit Mimi aufnehmen sollte. Um so größer war der Schock, als er erfuhr, dass ein großer Querschnitt geplant war. Und so musste er den größten Teil seiner Rolle vom Blatt singen. Mit seiner Musikalität war das kein Problem, aber natürlich hat er sich dabei furchtbar geniert: Die allererste Hauptrolle auf Platten – und nicht vorbereitet!“

Möglich, dass auch Trude Eipperle (1908-1997), seine Partnerin als Mimi und Butterfly, bei den Verantwortlichen des Phono-Clubs für Wunderlich Reklame gemacht hatte. Die Stuttgarter Altistin Hetty Plümacher berichtete, dass Wunderlich, als er sich dem Ensemble vorstellte, vor der Eipperle auf die Knie gefallen sei und ihr große Komplimente gemacht habe: „Er wusste, wie man die Herzen der Damen erobert.“ Dass die Eipperle von Alter her seine Mutter hätte sein können, hört man dem Duett aus Madame Butterfly nicht an: Ihre Stimme strömt absolut mühelos und klingt nach 27 Bühnenjahren unverbraucht und rein.

Und doch ist es der Zusammenklang zweier Generationen, zweier Epochen: Die erfahren-souveräne Kammersängerin im Duett mit dem aufstrebenden Nachwuchs-Tenor. Schon wegen dieser Kombination sind diese „Kinder-Aufnahmen“ Wunderlichs immer wieder faszinierend anzuhören.

Thomas Voigt   C 2005