Thomas Voigt
Official Website of Thomas Voigt, filmmaker and author

Fritz Wunderlich Complete DG Studio Recordings

Repertoire  : Weihnachtsoratorium (Richter), Matthäus-Passion (Münchinger), Oster-Oratorium (Couraud); : Missa Solemnis (), Haydn: e Schöpfung (); Monteverdi: L‘ (Wenzinger), : Die Entführung aus dem Serail (Jochum), e (), Lortzing: Zar und Zimmermann (Gierster), Tschaikowsky: Eugen Onegin (Gerdes), , (Bartoletti), Berg: Wozzeck (); Opern-Arien (, ), : e schöne Müllerin, : chterliebe; Alben: Du bist die Welt für mich, Ein Lied geht um die Welt, in Wien, Eine Weihnachtsmusik, populär.

Liner Notes
Recorded  1953-1966
Released  2016
CD Box  (32 CDs)

„Er zerspringt fast vor Energie“

Im Musik- und Theaterbetrieb gelten offenbar andere Energiegesetze als im täglichen Leben. Viele kennen das Phänomen von hochbetagten Dirigenten: sie werden schlagartig jünger, sobald sie am Motor der Musik und des Musizierens angeschlossen sind. Ohne diesen Motor wären viele erst gar nicht so alt geworden. Zum Beispiel Robert Stolz, der zwischen seinem 80. und 90. Lebensjahr zum Medienstar wurde. Oder Leopold Stokowski, der noch mit 92 einen Zehnjahresvertrag mit seiner Plattenfirma unterschrieb.

Auch bei Sängern hat es etliche Beispiele für diesen magischen Motor gegeben, der viel zu komplex zu sein scheint, als dass man ihn lapidar als „Adrenalin“ bezeichnen könnte. Er ist die Summe aller Faktoren, die einen Menschen antreiben, immer wieder an Grenzen zu gehen, sich selbst zu übertreffen.

Aber es gibt wohl nur ganz wenige, bei denen dieser Motor so stark war wie bei Fritz Wunderlich. Das Arbeitspensum, das er in den elf Jahren von seinem Debüt in Stuttgart bis zu seinem Tod bewältigt hat, würde auch einem notorischen workoholic den Angstschweiß auf die Stirn treiben. Und was er künstlerisch in dieser kurzen Zeit erreichte, ist fast ein Wunder: die Entwicklung vom hochbegabten Anfänger zum Jahrhundert-Sänger.

Wie so oft bei Frühverstorbenen haben Zeitzeugen das außergewöhnliche Energielevel des Künstlers in Beziehung zu seinem tragischen Ende gesetzt: „Als hätte er gewusst, dass er nicht lange zu leben hat“. Das mag man glauben oder nicht – Tatsache ist, dass Wunderlich nicht nur im Beruf ein Getriebener war, sondern auch im Privatleben. Zwischen Proben, Aufführungen, Konzerten, Aufnahmesitzungen und Reisen blieb buchstäblich keine Minute ungenutzt. Ob er mit seinen Kindern spielte, Freunde bewirtete, Morsegeräte baute, filmte, fotographierte oder Algen züchtete – alles was tat, tat er mit derselben Leidenschaft. „Die Jahre mit ihm waren geprägt von ständiger Übermüdung“, berichtete seine Witwe Eva, „und jeder der ihn kannte, fragte sich: Woher nimmt der Mann bloß diese Energie?“

Sicher war der Motor, der Wunderlich antrieb, vor allem aus Lebensfreude, Liebe zur Musik und kreativem Ehrgeiz gespeist. Doch der Faktor „Kompensation“ ist in seinem Fall nicht zu unterschätzen. Wunderlichs Geschichte ist die eines in seiner Kindheit mehrfach traumatisierten Menschen.

Sie beginnt am 26. September 1930 im pfälzischen Kusel. Die Eltern, beide Musiker, führen eine Gaststätte mit Kino. Als sich Vater unter dem Druck der Nazi-Diktatur das Leben nimmt, ist Fritz 5 Jahre alt. Die folgenden Jahre sind geprägt von Sorgen und Armut. Die Mutter muss ihn und seine Schwester Marianne allein durchbringen. In den Nachkriegsjahren hält sie sich als Geigerin und Musiklehrerin mühsam über Wasser, die Kinder helfen ihr, so gut es geht. Marianne begleitet die Mutter am Klavier, Fritz lernt Akkordeon, Trompete und Waldhorn, spielt und singt in einer Band. Nach dem Ende von Nazi-Terror und Krieg tritt er auch in der Theatergruppe des Kulturrings in Kusel auf. „Entdeckt“ und gefördert wird er von dem Musikwissenschaftler und Pädagogen Joseph Müller-Blattau und von Emmerich Smola, dem Dirigenten des Großen Unterhaltungsorchesters im Südwestfunk Baden-Baden. Beide raten ihm, in Freiburg Musik zu studieren. Wunderlich schreibt sich für Waldhorn und Gesang ein. Bei Margarete von Winterfeldt lernt er die Grundlagen der Gesangstechnik, seinen Lebensunterhalt verdient er sich weiterhin mit Tanzmusik. In einer Hochschul-Aufführung der Zauberflöte singt er 1954 zum ersten Mal den Tamino. Ein Jahr später gehört er bereits zum renommierten Ensemble der Württembergischen Staatsoper in Stuttgart. Dort geben sich, väterlich betreut vom Intendanten Walter Erich Schäfer und sorgsam geführt vom GMD Ferdinand Leitner, die größten Sänger die Klinke in die Hand. Schon nach wenigen Monaten mit kleinen Rollen bekommt Wunderlich die Chance, für einen erkrankten Kollegen als Tamino einzuspringen. Er besteht die Feuerprobe glänzend, sein Name macht die Runde, man verpflichtet ihn für Rundfunk- und Platten-Aufnahmen. Bei Proben zu Orffs Antigone findet Wunderlich in der Harfenistin Eva Jungnitsch jene Frau, die ihm schon seit Jahren als Ideal vorschwebt: eine echte Partnerin, die „am großen Werk“ mitarbeitet und die Familienidylle schafft, aus der er seine Kraft schöpft.

In der Öffentlichkeit pflegt er das Image des Strahlemanns, des lebenslustigen Künstlers. Er bleibt mit beiden Beinen am Boden, der Erfolg steigt ihm nicht zu Kopf. So zieht er nach seinem umjubelten Debüt bei den Salzburger Festspielen – 1959 als Henry in der Schweigsamen Frau unter Karl Böhm –  die Abgeschiedenheit eines einfachen Bauernhofs in Gesellschaft von Freunden und Familie dem Festspiel-Glamour vor.

1966, mit 35 Jahren, steht vor dem Sprung an die absolute Weltspitze: Sein Debüt auf der Bühne der Metropolitan Opera (wieder als Tamino in der Zauberflöte) soll den endgültigen internationalen Durchbruch bringen. Doch er hat große Angst zu versagen. Zehn Tage vor dem Abflug verkriecht er sich bei Freunden in einem Jagdhaus – um zu tun, was er seit seiner Kindheit tut, wenn er in Bedrängnis ist: Er geht in den Wald, wird vom Gejagten zum Jäger, wird eins mit der Natur und kann so zu sich selbst zurück finden.

Am Abend nach der Jagd ruft er seine Frau an, spricht mit ihr über den Tag, dann geht er hinunter zu seinem Zimmer. Auf der steilen Treppe, die mit einer Kordel gesichert ist, gerät er über einen offenen Schnürsenkel ins Stolpern. Er hält sich an der Kordel fest, doch diese reißt aus der Verankerung. Wunderlich stürzt die Treppe hinab und fällt auf den Hinterkopf. Schwer verletzt wird er ins Krankenhaus gebracht. Stundenlang kämpfen die Ärzte um sein Leben – vergeblich. Am 17. September 1966, neun Tage vor seinem 36. Geburtstag, verstirbt Wunderlich in der Universitätsklinik Heidelberg.

Seitdem ranken sich Legenden um die letzten Jahre des Sängers. Wie die von Frühvollendung und Todesahnung. Warum hatte er drei Wochen vor seinem Tod seine Autogrammkarten mit „in memoriam Fritz Wunderlich“ unterschrieben? Wieso sang und lebte er die letzten Jahre mit einer Intensität, als könnte jeder Tag der letzte sein?

Diese Lebensintensität ist sicher ein Grund, warum den meisten Aufnahmen Wunderlichs so gar nicht „Historisches“ anhaftet. Im Gegensatz zu manchen Sängern seiner Generation, die deutlich nach Nierentisch und Wirtschaftswunder klingen, wirkt sein Singen auffallend „aktuell“, selbst im Kontext zeitgebundener Orchesterklänge. Man mag das Arrangement seiner sensationellen „Granada“-Aufnahme, den Mozart-Stil von Karl Böhm oder den Orchesterklang in Karajans Aufnahme der Schöpfung als historisch empfinden – kaum aber den Gesang Wunderlichs.

So oft die Meinungen über Sänger auseinander gehen – Wunderlich gehört zu den wenigen, der alle wieder zusammenbringt, Journalisten und Fans, Sänger und Dirigenten, Zeitzeugen und Nachgeborene. Jonas Kaufmann, von Presse und Publikum als „neuer König der Tenöre“ gefeiert, hat den Sonderrang Wunderlichs folgendermaßen beschrieben: „Er hat in alles, was er sang, so viel Liebe und Hoffnung, so viel Leidenschaft und Feuer hineingelegt, als wäre es der letzte Auftritt seines Lebens. Er war beim Singen nicht nur 100 Prozent Künstler, sondern auch 100 Prozent Mensch: Von seinen Gefühlen führte immer eine direkte Verbindung zu den Gefühlen des Zuhörers. Selbst seichte Musik und unmögliche Texte klingen bei ihm so, als wären sie das Schönste von der Welt. Seine ‚Granada’-Aufnahme nehme ich mit auf die einsame Insel. Das ist unglaublich, wie er da singt, er zerspringt fast vor Energie. Oder diese Ekstase beim ‚Trinklied vom Jammer der Erde’, das ist einfach irre. Das Publikum einmal so packen zu können, wie Wunderlich es immer konnte, das wär’s!“

Vielleicht der originellste Kommentar stammt von Thomas Hampson: „Wenn ich seine Platten anhöre, brauche ich mich nicht mehr einzusingen. Da wird meine Kehle völlig frei, nur vom Zuhören.“

Ein wichtiger Bauteil im Motor Wunderlichs wurde noch nicht erwähnt: der Selbstzweifel. Kaum etwas konnte ihn mehr antreiben als der Gedanke: Das war noch nicht das, was es sein sollte, das kannst du noch besser! Exemplarisch dafür ist die kleine Krise, die durch eine Kritik nach seinem ersten Liederabend in München ausgelöst wurde. „Ein Opernsänger als Liedersänger“, hatte Walter Panofsky in der „Süddeutschen Zeitung“ geschrieben – und damit einen wunden Punkt getroffen. Natürlich wusste Wunderlich, dass der Liedgesang vom Sänger eine ganz andere Herangehensweise erfordert als eine große Opernpartie. Er hatte sich redlich bemüht, dem gerecht zu werden – und musste nun von einem Mann, dessen Meinung er sehr schätzte, lesen, dass ihm das offenbar nicht gelungen war. Der Stachel saß tief. Er besprach das Problem mit seinem Freund Hermann Prey, und der riet ihm: „Geh zu Hubert Giesen!“ Der war nicht nur Preys Partner bei Liederabenden, sondern einer der renommiertesten Lied-Begleiter überhaupt. Wunderlich kannte ihn seit Jahren, hatte aber noch nicht mit ihm gearbeitet. Die „Chemie“ zwischen den beiden stimmte auf Anhieb, und Wunderlich war fast erleichtert, als Giesen ihm nach dem ersten „Vorsingen“ sagte: „Soll ich ehrlich sein? Ich finde es ziemlich schlecht“. Mit diesen Worten begann eine bedeutende Phase in der künstlerischen Entwicklung Wunderlichs. Wie sehr er sich durch die Arbeit mit Giesen entwickelte, zeigt der Vergleich seiner ersten und letzten Studio-Aufnahme der Schönen Müllerin. Die erste, 1957 in Berlin aufgenommen, ist vor allem Dokument eines unbekümmerten Newcomers anzusehen. Sicher: Heute wäre wohl jeder Tenor froh, wenn er diesen Zyklus so singen könnte wie Wunderlich als Anfänger – doch an Wunderlichs Maßstäben gemessen ist die Aufnahme eher eine Skizze als eine Interpretation. Die letzte Version entstand Anfang Juli 1966 in München. Neun Jahre liegen zwischen den beiden Einspielungen – und interpretatorisch eine ganze Welt. Aus dem hochbegabten Opernsänger ist ein Liedgestalter geworden. 1966 klingt jede Phrase sorgfältig vorbereitet und reflektiert, doch anders als bei vielen berühmten Liedsängern, hat man bei Wunderlich niemals den Eindruck eines singenden Dozenten. Ihm gelingt durchweg die schwierigste aller Haltungen im Sängerleben: Natürlichkeit.

Er meidet jeden Anflug von Manierismus und Zeigefinger-Didaktik. Er ist, um mit der berühmten Gesangspädagogin Franziska Martienssen-Lohmann zu sprechen, ein „wissender Sänger“, aber er kehrt es nicht hervor. „Natürlichkeit“ und Reflexion sind bei ihm genauso in Balance wie Ton und Wort. In besten Momenten meint man, längst Vertrautes zum ersten Mal zu hören.

Wunderlichs Schönheitsfehler, das eingeschobene „H“ („Di-hie ge-he-li-hieb-te-he Mü-hü-le-he-ri-hin“), fällt hier weniger auf als in früheren Jahren – auch das ein Zeichen dafür, wie sehr der Sänger an sich gearbeitet hat. Denn im Gegensatz zu vielen anderen Dingen, wird das nahtlose Legatosingen niemals so „automatisch“ wie das Gangschalten beim Fahren; man muss es immer wieder wollen, und gerade beim Liedgesang steckt die Kunst im Detail.

Wunderlich war sich dessen sehr wohl bewusst, als er in einem Interview mit Egloff Schwaiger sagte: „Ich bin erst sehr spät zum Lied gekommen. Aber nicht deshalb, weil ich vorher keine Beziehung dazu hatte, sondern weil ich wusste, dass ich nur dann Lieder singen kann, wenn ich meine Stimme dafür absolut beherrsche. Das ist die wichtigste Voraussetzung für das Lied: Man darf unter keinen Umständen auch nur die geringste gesangstechnische Schwierigkeit haben. Am Lied erkenne ich, ob ich singen kann.“

Das er nicht nur bei Schumann und Schubert, sondern auch beim Genre „Wiener Lied“ einen neuen Maßstab setzte, obwohl ihm das Wienerische nicht an der Wiege gesungen wurde, zeigt eindrucksvoll ein Brief von Robert Stolz, den dieser nach Abschluß ihrer ersten gemeinsamen Platte verfasste: “Mein lieber Freund! Sie haben von unserem Herrgott nicht nur eine prachtvolle Stimme bekommen, die Sie durch mustergültige Schulung, Studium und Training zur Vollkommenheit entwickelt haben und beherrschen, sondern auch noch eine Musikalität, die ans Metaphysische grenzt, ein hochkünstlerisches Musikantentum, verbunden mit so viel Herz, Gefühl und Können, wie es in der Musikgeschichte nur ganz wenigen Sängern gegeben war.”

Thomas Voigt © 2016