Thomas Voigt
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Elisabeth Schwarzkopf – The Complete Recitals 1952-1974

 

CD 1    Recital, Edwin Fischer (1952)
CD 2    , Operatic Arias; John Pritchard (1952)
CD 3    , Vier letzte Lieder / Caprricio Closing Scene; (1953)
CD 4    , (Highlights); , Lovro von Matacic (1954)
CD 5    Recital (, Gluck, , , , etc.); Gerald Moore (1954)
CD 6    , Song Recital; Walter Gieseking (1955)
CD 7    Duet Recital with Irmgard (1955)
CD 8    Walton, Troilus and Cressida (Scenes); , William Walton (1955)
CD 9    Song You Love (Mendelssohn, Dvorak, Han, Tschaikowsky etc.); Gerald Moore (1956)
CD 10  Christmas Album; Charles Mackerras (1957)
CD 11  Operetta Recital (Heuberger, Zeller, Lehár, Millöcker, Strauß etc.); (1957)
CD 12  , Goethe Lieder; Gerald Moore (1956/57)
CD 13  , Italienisches Liederbuch (Exc.); Gerald Moore (1959)
CD 14  Recital; Gerald Moore (1962)
CD 15  Romantic Heroines (Der Freischütz, , ); (1958)
CD 16  Favourite Scenes and Arias (, Gianni Schicchi etc.; 1956-66)
CD 17  , Vier Letzte Lieder and five other songs; George (1965)
CD 18  / , Concert Arias & Lieder; Alfred Brendel, George (1968)
CD 19  Mahler, Des Knaben Wunderhorn; etrich Fischer-eskau, Georg (1968)
CD 20  , Italienisches Liederbuch; etrich Fischer-eskau, Gerald Moore (1965-67)
CD 21/22  , Deutsche Volkslieder; etrich Fischer-eskau, Gerald Moore (1965)
CD 23  Songbook Vol. 1 (, , , etc.); Gerald Moore (1957-65)
CD 24  Songbook Vol. 2 (, Mahler, , Mussorgsky etc.); Gerald Moore (1966/67)
CD 25  Songbook Vol. 3 (, Loewe, , Liszt, Mahler etc.); Geoffrey Parsons (1965-68)
CD 26  Songbook Vol. 4 (, , , etc.); Geoffrey Parsons (1970)
CD 27  Songs I love (, , ); Geoffrey Parsons (1970-73)
CD 28  , Frauenliebe und -leben; Geoffrey Parsons (1974)
CD 29  Recital; (Salzburg 1953)
CD 30/31  Hommage a Gerald Moore ( 1967); Arias (1954)

Producer  Walter
Liner Notes  Alan Sanders, André Tubeuf,
Released  2015

 

 

 

 

Her Master’s Voice

Erinnerungen an Begegnungen mit Elisabeth Schwarzkopf

Elisabeth Schwarzkopf zu hören ist Kino im eigenen Kopf. Und zwar in Technicolor. Ich werde nie vergessen, wie ich das zum ersten Mal hörte. Es war ein Querschnitt ihrer Aufnahme von Wiener Blut. Ich muss damals zehn oder elf gewesen sein, hatte bereits eine umfangreiche Plattensammlung und kannte Wiener Blut von der sehr komödiantischen, attraktiv besetzten Gesamtaufnahme unter Robert Stolz mit Hilde Güden und Rudolf Schock. Keine schlechte Vorbildung also; doch wie Schwarzkopf, Gedda das berühmte Titelduett gestalteten – das war der Schlüssel zu einer neuen Welt: als würde man einen vertrauten Schwarzweiß-Film plötzlich in wunderbaren Farben sehen. Nach dieser Initialzündung war ich süchtig nach Schwarzkopf-Platten. Als Nächstes kam das Operetten-Recital mit der verlockenden Einladung ins „Chambre séparée“. Doch da lernte ich auch die Kehrseite der Medaille kennen: eine neckisch-künstliche Christel von der Post. Nein, Volkes Stimme war Schwarzkopfs Sache nicht. Ihr Terrain waren die Grandes Dames, die Frauen mit Eleganz und Esprit. Noch heute bin ich fasziniert von ihren Auftrittsliedern als Lustige Witwe und Angéle (Der Graf von Luxemburg). Das ist Kopfkino vom Allerfeinsten. Und die Filme stammen, wie Jürgen Kesting in seinen Portraits der Sopranistin treffend schrieb, von Ernst Lubitsch.

Der Regisseur in Schwarzkopfs Leben hieß indes Walter Legge. Von ihm lernte sie, mit der Stimme zu agieren, mit feinsten Klangfarben zu malen. Legge war der einflussreichste Plattenproduzent seiner Zeit; er begann bei His Master’s Voice, machte schon als 30jähriger Plattengeschichte mit der von ihm gegründeten Hugo Wolf Society, legte später den Grundstein für Karajans gigantische Platten-Karriere und verantworte als Chefproduzent der Columbia (später EMI) u. a. die Aufnahmen von Wilhelm Furtwängler, Otto Klemperer, Nicolai Gedda und Maria Callas. Wegen seiner unverblümten Art und seines unbestechlichen Urteils in der Branche gleichermaßen respektiert und gefürchtet, formte er ab 1946 Stimme und Karriere der Schwarzkopf. Legge machte aus der Hochbegabten ein akustisches Markenzeichen, das in zahllosen Aufnahmen um die Welt ging: Her Master’s Voice. Was nach Wortspiel eines boshaften Journalisten klingt, ist Schwarzkopfs höchst eigene Erfindung. Sie hat sich selbst so bezeichnet, hat nie verschwiegen, wie viel sie ihrem Mentor und späteren Ehemann verdankte.

Wann immer wir miteinander sprachen, bei Interviews, nach Meisterklassen oder am Telefon – Legge war im Geiste immer anwesend. Beim gemeinsamen Hören ihrer Aufnahmen entschuldigte sie sich wiederholt, dass nicht alles so gelungen war, wie es sich Legge in seiner Phantasie vorgestellt hatte; manchmal schien sie härter mit sich selbst zu sein, als er es zu seinen Lebzeiten gewesen wäre. „Glauben Sie ja nicht, dass ich alles wunderbar von mir finde! Da gibt es auch Dinge zu hören, die ich nicht meinen Schülern durchgehen lassen würde!“ Zum Beispiel das eingeschobene „h“ („Bei Mä-hännern we-helche Li-hiebe fühlen“): „Das war für uns das rote Tuch, und trotzdem bin auch ich in diese Abgründe gefallen. Denn im Gegensatz zu anderen Dingen wird das wirkliche Legato-Singen niemals zur Selbstverständlichkeit. Man muss es sich immer wieder bewusst machen, muss es immer wieder wollen.“

Aber sie konnte sich auch freuen wie ein Kind, wenn sie etwas von sich hörte, was ihr wirklich gefiel. Wer die diversen Fernseh-Portraits gesehen hat, wird sich lebhaft daran erinnern, mit welchem Gesichtsausdruck sie das Wiener Blut-Duett oder Evas Gefühlsausbruch „O Sachs, mein  Freund“ kommentierte. Nicht zu vergessen die Meistersinger-Phrase „Keiner wie du“, die keine so singt wie sie – nachzuhören in der Bayreuther Live-Aufnahme von 1951. Legge hatte ihr diese Phrase in einer Aufnahme von Meta Seinemeyer vorgespielt; sie hörte genau hin, machte sich das Gehörte völlig zu eigen – und das Resultat war durchaus kein Plagiat, keine Kopie, sondern kunstvoll tradiertes Erbe, dargeboten in reinstem Schwarzkopf-Klang, unverkennbar und einzigartig.

Schade, dass ich ihr nicht mehr den Rosenkavalier von den Wiesbadener Maifestspielen 1961 zeigen konnte, den wir im Zuge der Recherche für unsere Schwarzkopf-Doku Getriebene der Kunst (ZDF 2011) im Archiv des Hessischen Rundfunks entdeckten. Im Gegensatz zum legendären Salzburger Film unter Karajan handelt es sich hierbei um den TV-Mitschnitt einer Aufführung: ehrliches abgefilmtes Theater aus den Kindertagen der Opern-Aufzeichnung. Heinz Wallberg dirigiert, Christa Ludwig, Wilma Lipp und Otto Edelmann sind wunderbare Partner – und Schwarzkopfs Portrait der Marschallin übertrifft alles, was ich von ihr in dieser Partie gehört und gesehen habe. Sie selbst hatte die Aufführung in lebhafter Erinnerung, auch deshalb, weil sie nach der Fernsehübertragung eine kollektive Lobeshymne vom Hofmannsthal-Ensemble des Burgtheaters bekam – „eine der größten Auszeichnungen, die mir je zuteil geworden sind“.

Ja, sie verstand sich auch als Schauspielerin, feilte ihre sechs signature roles – Mozarts Contessa, Elvira und Fiordiligi, Marschallin und Capriccio-Gräfin sowie die Alice in Verdis Falstaff – auch darstellerisch bis ins Letzte aus. Sie war ewig Lernende und konnte sich rückhaltlos begeistern für die Leistungen anderer, ob es Sänger, Instrumentalisten, Dirigenten oder Schauspieler waren. Der unverkennbare Ton der Wessely, die frivolen Andeutungen der Fritzi Massary, die Diktion von Laurence Olivier, die Legatokultur von Richard Tauber, die „Doppelbett“-Stimme von Lotte Lehmann, die Eleganz von Walter Gieseking, die Stimmführung der Welitsch – das und vieles andere führte sie an, wenn ich sie nach künstlerischen Schlüsselerlebnissen fragte.

Ein besonderes Faible hatte sie für Irmgard Seefried. Sie bewunderte deren üppige reiche Mittellage und die „ungeheure Ausdruckskraft“, mit der sie ihre Opernpartien und ein riesiges Liedrepertoire gestaltete. „Es gehört zu meinen schönsten Erfahrungen, wenn unsere Stimmen im Figaro-Duett so genau aufeinander abgestimmt waren, dass man beim bloßen Hören kaum erkennen konnte, wer von uns sang. Mit ihr konnte man wirklich Kammermusik machen.“ Nachzuhören ist das ist in – viel zu wenigen – gemeinsamen Aufnahmen: Bei dem rasanten Wiener Figaro und der unübertroffenen Ariadne (beide unter Karajan), bei Szenen aus Hänsel und Gretel und Der Rosenkavalier – und glücklicherweise auch bei einem gemeinsamen Liedrecital mit Duetten von Monteverdi, Carissmi und Dvorak. Eine merkwürdige Kombination, gewiß, doch wo findet man schon Lieder für zwei Soprane?

Wenn wir über ihr Lied-Repertoire sprachen, ging es meist um Hugo Wolf. Dass Legge sie bei dem legendären Vorsingen in Wien stundenlang mit einer Phrase aus Wolfs „Wer rief dich denn?“ triezte, war schon ein kleiner Vorgeschmack auf das, was kommen sollte. Legge war fanatischer Wolf-Anhänger und nach dem Vorsingen war ihm klar: Hier hatte er das ideale Medium gefunden. Wie sehr sich Schwarzkopf die höchst anspruchsvolle Wort-Ton-Welt von Wolf zu eigen machte, zeigen Hunderte von Miniaturen. Kunst und Camp liegen da oft nahe beieinander. Der neckische Ton im „Elfenlied“ oder das hysterische Lachen der Zigeunerin ist sicher nicht jedermanns Sache. Andererseits sind es gerade hier immer wieder die kleinen Dinge, die entzücken. Zum Beispiel der subtil-biestige Kinder-Ton im „Mausfallensprüchlein“ oder das wissende Lächeln im „Schatten meiner Locken“. Eine Kategorie für sich sind die Mignon Lieder. Ihre Gestaltung der letzten Phrase in „Mignon III“ („Macht mich auf ewig wieder jung“) ist schiere Magie, und ihre Vokalfärbungen der „Zitronen“ und „Goldorangen“ in „Kennst du das Land“ hat der vokal-affine Cellist Alban Gerhardt als eines seiner musikalischen Schlüsselerlebnisse beschrieben: Wo andere im braven Mittelmaß bleiben, riskiert Schwarzkopf das Ungewöhnliche, exponiert sich und macht sich damit angreifbar.

Dass man ihre Klangfarben-Dramaturgie als artifiziell oder manieriert bezeichnet hat, dass man ihr in späten Jahren immer wieder Verfärbungen vorwarf, darauf reagierte sie meist mit müdem Lächeln. „Das schreibt einer dem anderen nach, ohne sich vielleicht mal einen Gedanken darüber zu machen, warum hohe Frauenstimmen im reiferen Alter bei bestimmten Tönen und vor allem in den Übergangslagen oft eine andere Farbe nehmen müssen. Aber das geht jetzt zu sehr ins Physiologisch-Technische hinein, wovon der Laie nichts weiß und auch nichts wissen soll. Solche Dinge gehen eigentlich nur den Profi etwas an. Und ich gehe ja auch nicht ins Cockpit und sage dem Kapitän, wie er sein Flugzeug zu fliegen hat.“

Dieses Färben-Müssen im fortgeschrittenen Alter hat Problematisches hervorgebracht wie die späte Aufnahme der Schumann-Zyklen, doch auch wunderbare Herbstfarben wie in ihrer zweiten Studio-Aufnahme der Vier letzten Lieder unter George Szell. Es sind Klanggemälde, in die man sich derart versenken kann, dass man danach so entspannt ist wie nach autogenem Training.

Wer sich chronologisch durch die hier erstmals in einer Box versammelten Solo-Alben hört, wird auch feststellen, dass der Alterungsprozeß von Stimme und Körper oft durch einen Gewinn an klanglichen Schattierungen kompensiert wurde – sicher mit ein Grund, warum Legge einen ganzen Katalog von Remakes mit ihr machte. Mag sein, dass das Schubert-Album mit Edwin Fischer für Schwarzkopfs stimmliche Entwicklung ein paar Jahre zu früh kam. Noch Jahrzehnte später spürte sie beim Wiederhören, wie sehr sie sich damals gesorgt hatte, dem Spiel dieses legendären Pianisten gerecht zu werden.

Im Alter wurde sie kritischer mit sich und gnädiger mit anderen. Mit einer Ausnahme. Wann immer der Name Karajan fiel, verfinsterte sich ihr Gesicht. Natürlich räumte sie ein, dass sie jahrelang seine Favoritin war und ihm einiges zu verdanken hatte. Aber sie hatte auch nicht vergessen, dass Karajan seinen Freund Legge, den er als sein „künstlerisches Alter Ego“ bezeichnet hatte und dem er immerhin den Beginn seiner Platten-Karriere verdankte, fallen ließ, nachdem Legge die EMI im Streit verlassen hatte. „Er hatte ja geplant, seine Memoiren zu schreiben, und er wollte sie nach dem berühmten Rheingold-Zitat betiteln: ‚Immer war Undank Legges Lohn.’ Das war eindeutig auf Karajan gemünzt. Ein Mensch ohne Dankbarkeit. Er hat uns alle benutzt und weggeworfen, ohne je Dankeschön zu sagen.“

Um so stärker hob Schwarzkopf in späteren Jahren Wilhelm Furtwängler hervor: „Ein Mensch, der für die Musik geboren war, ein halber Gott! Er hat immer herausgebracht, was er in der Musik fühlte – und nicht sich selbst! Was für ein Glück, mit ihm musizieren zu dürfen!“ In diesem Kontext berichtete sie gern von dem einzigen und einzigartigen Liederabend mit ihm, 1953 in Salzburg, ein reines Hugo Wolf Programm, für das Furtwängler die kniffligen Klavierparts geübt hatte wie ein Schüler vor dem Examen. Jahrzehnte später, als Franz Endler bei der Schubertiade in Schwarzenberg Furtwänglers Witwe Elisabeth, Hans Hotter und Elisabeth Schwarzkopf öffentlich interviewte, wurde Schwarzkopf auffällig aggressiv gegen Hotter, als er es wagte Furtwänglers Faible für schöne Frauen zu erwähnen.

Nachdem Legge die EMI verlassen hatte, konzentrierte er sich ganz auf die Konzerte und Aufnahmen von Elisabeth Schwarzkopf. Jedes Detail wurde akribisch vorbereitet; als dem seit längerer Zeit Herzkranken die Postproduktion des Tribute to Gerald Moore von den Ärzten untersagt wurde, baute er an seinem Krankenbett ein mobiles Büro auf, von dem er alles steuern konnte. „Wenn du nicht mehr singst, sterbe ich“, hatte er ihr einmal gesagt. Und wie so oft sollte er auch diesmal Recht behalten: Am 22. März 1979, drei Tage nach Schwarzkopfs Abschiedskonzert in Zürich, starb er an den Folgen eines schweren Herzanfalls.

In den 27 Jahren nach Legge blieb Schwarzkopf unermüdlich aktiv: Neben Meisterklassen, Interviews und öffentlichen Auftritte widmete sie sich intensiv der Photographie. In ihrem Archiv befinden sich Tausende von Blumenbildern, ein Foto-Ordner trägt die Aufschrift: „Fast mein kostbarster Besitz“. Bei Meisterklassen polarisierte sie, wie ich es bei kaum einem anderen Künstler ihres Ranges erlebte. Die unverblümte und schonungslose Art, mit der sie ihre Schüler behandelte, fand, je nach Standpunkt, begeisterte Zustimmung und strikte Ablehnung. In der Kölner Oper wäre es einmal fast zu einer Schlacht im Publikum zu kommen. Wie die Dokumentarfilme von Norbert Beilharz zeigen, war Schwarzkopfs Einstellung zu ihren Schülern während ihrer letzten Lebensjahre deutlich positiver. Ein besonders Begabter bekam sogar den Ritterschlag: „Na deswegen geht man in Liederabende, wissen Sie.“

Bei unserem letzten Treffen, wenige Wochen vor ihrem 90. Geburtstag in ihrer komplett vergitterten Wohnung in Schruns, war sie ungewohnt relaxed. Nur einmal kam der preußische Schwarzkopf-Ton auf, den ich von ihr so gut kannte. Sie ging am Rollator Richtung Küche, drehte sich um, wies auf ihre Gehhilfe und sagte: „Ich hasse Langsamkeit! Und das hier ist die Strafe dafür, das weiß ich schon!“ Das nächste Mal wollten wir uns treffen, um ein Buchprojekt zu besprechen, eine Sammlung von kommentierten Briefen, Dokumenten und Fotos. Doch dazu kam es nicht mehr. Elisabeth Schwarzkopf verstarb am 3. August 2006.

Thomas Voigt (C) 2015