Thomas Voigt
Official Website of Thomas Voigt, filmmaker and author

Elisabeth Grümmer sings Mozart

Repertoire  Le Nozze di , , Cosí fan tutte, e ; Lieder
Conductors  Kurt Eichhorn,
Pianist  Hans Altmann

Radio & Live Recordings 1956-1962
Liner Notes 
CD  Klassik

 

Wärme und Innigkeit

Mehrmals im Jahr formieren sich Juroren vom „Preis der Deutschen Schallplattenkritik“ zu einem „Quartett der Kritiker“, um sich coram publico über diverse Aufnahmen desselben Stückes auseinanderzusetzen. Und natürlich ist es Sinn der Sache, dass dort heftig gestritten wird. Aber manchmal kommt es auch zu unerwarteter Einigkeit. Wie vor kurzem beim Schleswig-Holstein-Festival, als ich meine Referenz-Aufnahme der Arie „Ihr habt nun Traurigkeit“ aus dem Deutschen Requiem von Johannes Brahms spielte, die Version mit Elisabeth Grümmer und Rudolf Kempe. Die Wirkung, die diese Aufnahme ausgeht, lässt sich mit objektiven Kriterien nicht beschreiben. Sie berührt und bewegt, dringt in die Tiefe des Herzens. Es ist die Stimme einer schönen Seele, die den Trauernden Trost zuspricht.

„Schöne Seele“. So lautet in Jürgen Kestings Erstausgabe seines Lebenswerkes Die großen Sänger die Headline zum Kapitel über Elisabeth Grümmer (1911-1986). Selbst der große Stimmenkenner, der mit außermusikalischen Begriffen sonst sehr vorsichtig ist, hat sich nicht gescheut, sie diesmal als herausragende Eigenschaften zu beschreiben. Ihre Stimme sei die „Klang gewordene romantische Innigkeit und Empfindsamkeit“ gewesen, ihr Gesang „das Bekenntnis einer schönen Seele“. Exemplarisch zu hören ist das bei ihren Portraits der Agathe in Webers Freischütz, der Eva in Wagners Meistersinger und der Elsa in Lohengrin, bei ihren Aufnahmen der Lieder von Schubert und Brahms. Aber auch bei Mozart. Der Begriff „romantische Innigkeit“ mag hier vielleicht auf die falsche Fährte führen. Sicher singt Elisabeth Grümmer Lieder wie „Abendempfindung“ und „Das Veilchen“ oder die Arie der Pamina mit wesentlich mehr Wärme und Innigkeit als wir es seit der stilistischen Wende durch die Historische Aufführungspraxis kennen – aber es ist keinesfalls ein Mozart aus romantischer Perspektive. Wenn dem so gewesen wäre, hätte ein so „moderner“ Mozart-Interpret wie Ferenc Fricsay sie wohl nicht für seine WDR-Produktion des Figaro und für die Eröffnung der Deutschen Oper Berlin mit Don Giovanni eingesetzt. Diese Aufführung ist auf DVD ebenso dokumentiert wie die legendäre Salzburger Produktion von 1954 unter Wilhelm Furtwängler. Und wie der Vergleich der Aufführungen zeigt, war Elisabeth Grümmer als Donna Anna stilistisch und musikalisch so flexibel, um den höchst unterschiedlichen Lesarten beider Dirigenten gerecht zu werden. Außerdem klingt sie, wenn sie Mozart auf deutsch singt, bei aller Textdeutlichkeit niemals teutonisch.

Das zeigen insbesondere auch die vorliegenden Ausschnitte aus Così fan tutte, die sie unter Horst Stein und Kurt Eichhorn einspielte: Das große Duett Fiordiligi-Ferrando (mit dem wunderbaren Waldemar Kmentt) sang sie im Januar 1962 in deutscher Übersetzung, die Soli der Fiordiligi sechs Monate später im originalen Italienisch. Wie es zum Sprachwechsel kam, lässt sich heute nicht mehr eruieren. Wahrscheinlich hatte sie die komplette Partie bis dato nur auf deutsch gesungen, während sie die Arien für internationale Konzerte auch in der Originalsprache „drauf“ hatte. Anfang der 1960er Jahre war die Übergangszeit zwischen deutscher Ensemblekultur und zunehmender Internationalisierung, in deren Folge es an deutschsprachigen Opernhäusern immer wieder zu bilingualen Aufführungen kam.

Bei Elisabeth Grümmers Aufnahmen der Gräfin, Donna Anna und Fiordiligi habe ich die deutsche Sprache genausowenig als störend empfunden wie bei Fritz Wunderlich. Selbst bei ungünstigsten Konsonantentrauben deutscher Übersetzungen hat ihr Gesang in den Kantilenen („Dove sono“, „Non mi dir“) noch immer das bruchlose Legato der italienischen Versionen. Und dank meisterhafter Diktion und eines sorgfältigen Vokalausgleiches fällt auch die Klangqualität gegenüber dem Original kaum ab.

Was weiterhin auffällt, ist der junge Klang der Stimme, bei den Liedern fast noch mehr als bei den Opern-Auszügen. Als Elisabeth Grümmer diese Aufnahmen machte war sie Mitte Vierzig / Anfang Fünfzig. Als Musterschülerin der legendären Gesangspädagogin Franziska Martienssen-Lohmann, war sie auf sorgsame Bewahrung ihrer Klangqualität bedacht. Noch nach 20 Karrierejahren suchte sie ihre Lehrerin regelmäßig auf, um die Stimme „polieren“ zu lassen, überzeugt davon, dass man als Sänger bis zuletzt Lernender bleibt. Auf diese Weise erhielt sie sich den mädchenhaft-unschuldigen Klang, den man für Titel wie „Der Zauberer“ und „Das Veilchen“ unbedingt braucht. Und deshalb war sie in Partien wie Agathe, Eva und Elsa noch als Fünfzigjährige konkurrenzlos. Wie ein kurzer Film-Ausschnitt aus Wieland Wagners Bayreuther Meistersinger-Inszenierung zeigt, blieb sie als Eva auch optisch und schauspielerisch glaubwürdig. Um so größer war die Empörung im Publikum, als Wieland Wagner die Grümmer Anfang der 1960er Jahre durch die 29 Jahre jüngere Anja Silja ersetzte. Vor allem die Berliner machten ihrem Unmut lautstark Luft. Sie liebten die Grümmer aus vollem Herzen, und offenbar war die Liebe gegenseitig, hat die Sopranistin die Deutsche Oper Berlin doch immer als ihr „Mutterschiff“ bezeichnet.

Dass bei aller Liebe zu Berlin die internationale Karriere zu kurz kam (an der Metropolitan Opera z.B. sang sie lediglich eine Serie von Lohengrin-Vorstellungen im Jahr 1967), hatte aber auch andere Gründe. Einer davon hieß Walter Legge. Der Chefproduzent vom Columbia (EMI) und Ehemann von Elisabeth Schwarzkopf hatte die Grümmer Anfang der 1950er Jahre unter Vertrag genommen. Nach der Aufnahme von Hänsel und Gretel (mit Schwarzkopf als Gretel und Karajan am Pult) kam es jedoch zu keiner weiteren Zusammenarbeit. Da es sich einen Exklusivvertrag handelte, war die Grümmer für Aufnahmen anderer Firmen gesperrt, so u. a. für Fricsays Mozart-Zyklus bei der Deutschen Grammophon. Zwar hatte sie die Möglichkeit, ihre Wagner-Rollen und den Freischütz für die deutsche EMI-Tochter Electrola aufzunehmen (mit Fritz Ganss als Produzenten), doch bei Mozart und Strauss hatte Legge das Terrain für Elisabeth Schwarzkopf reserviert.

Über die Konkurrenz der beiden großen Elisabeths ist viel geschrieben und gesprochen worden; es gab sogar ein Radiofeature mit dem provozierenden Titel „Elisabeth die Erste“. Sicher ist es reizvoll, Mozart-Lieder und –Arien, Agathes „Leise leise“, Elsas Traum oder Evas „Selig wie die Sonne“ in beiden Versionen zu vergleichen. Und wahrscheinlich werden die meisten Hörer finden, dass die Schwarzkopf die Raffiniertere und die Grümmer die Natürlichere von beiden ist. Doch wozu Rankings und Ratings, wozu hohle Superlative wie „Erste, Schönste, Beste“? Sollte man sich nicht lieber daran erfreuen, dass man zwei so hervorragende und dabei so unterschiedliche Sängerinnen im gleichen Repertoire hören kann, dass man außerdem noch eine Della Casa, eine Jurinac und eine Janowitz hinzunehmen kann? Übrigens hat Elisabeth Grümmer in der Öffentlichkeit oft ihre Bewunderung für Elisabeth Schwarzkopf zum Ausdruck gebracht und sie eingedenk gemeinsamer Don Giovanni-Aufführungen in Salzburg als „große Könnerin“ bezeichnet.

Wie so viele Sänger ihrer Generation ist Elisabeth Grümmer heute auf Platten wesentlich präsenter als zu Lebzeiten. Dank der Auswertung von Rundfunk-Archiven kann man sich heute via CD und Internet-Foren einen umfassenden Eindruck dieser wunderbaren Sängerin verschaffen. Die vorliegende Sammlung der BR-Aufnahmen sei schon wegen „Abendempfindung“ Jedem ans Herz gelegt, der ein Gespür für das Außergewöhnliche hat. Hier kann man exemplarisch hören, was letztlich das Ziel jeder Gesangstechnik ist: Den Körper in die Lage zu versetzen, mühelos in Klang zu verwandeln, was Geist und Seele zum Ausdruck bringen möchten.

Thomas Voigt © 2012