„Wisst ihr denn nicht, dass der Tenor kein Wesen von dieser Welt ist? Er ist eine Welt in sich.“
Was Hector Berlioz lange Zeit vor der Erfindung der Schallplatte formulierte, wurde im Zeitalter der technischen Reproduzierbarkeit von Musik mehr als bestätigt. Nicht die legendäre Adelina Patti oder der Belcanto-Baß Pol Plancon waren es, die den Beginn der Schallplatten-Ära begründeten, sondern Enrico Caruso.
Nicht hochattraktive Primadonnen wie Maria Jeritza und Jarmila Novotna feierten in den ersten Jahren des Tonfilms Triumphe, sondern der rundliche Richard Tauber und der kleinwüchsige Joseph Schmidt. Nicht die phänomenal begabte Maria Cebotari war der Gesangsstar in den Filmen der Ufa, sondern der aus Italien importierte Beniamino Gigli. Nicht Dietrich Fischer-Dieskau und Hermann Prey waren die Klassik-Bestseller während der Wirtschaftswunderjahre in Deutschland, sondern Peter Anders und Rudolf Schock. Und nicht drei Bässe trafen anläßlich der Fußball-WM 1990 in Rom zusammen, sondern drei Tenöre. Die drei Tenöre, wie sie seitdem genannt werden.
Mit diesem Event, so heißt es im Text zur DVD The Very Best of The Three Tenors, fand eine besondere Tradition ihre Fortsetzung: tenor worship. Griffiger als mit diesem Schlagwort lässt sich kaum der Kult beschreiben, der seit jeher mit Star-Tenören betrieben wird. Warum ist das so? Warum faszinieren Tenöre ein Massenpublikum, das selbst die größten Primadonnen nicht erreichen (von Ausnahmen wie Maria Callas einmal abgesehen)?
Das Erotische
Marketing-Manager werden darauf mit der gängigen Erfolgsformel antworten: Sex sells. Wer einmal erlebt hat, wie ganze Heerscharen mütterlicher Frauen ihren Lieblings-Tenor am Künstler-Eingang umringen und dabei nicht selten an jene Groupies erinnern, die sich in den 60er Jahren für die Beatles heiser kreischten, wird diesen Standpunkt ohne Schwierigkeiten nachvollziehen können.
Telegene Tenöre wie Rudolf Schock, Mario del Monaco, Giuseppe di Stefano, Franco Corelli, Placido Domingo, Jose Carreras, Jose Cura oder Juan Diego Florez scheinen die Vermutung zu bestätigen, dass gutes Aussehen genauso zählt wie eine tolle Stimme. Andererseits ist ein Tenor nach der klassischen „Typenlehre“ keineswegs athletisch, sondern eher klein und rundlich. Sänger dieses Typs – Caruso, Gigli, Tagliavini, Bergonzi und viele andere – waren deswegen sicher nicht weniger erfolgreich, und kaum einer hat mit seinen Pfunden auf dem internationalen Sängermarkt so üppig wuchern können wie Luciano Pavarotti.
Also ist es doch in erster Linie die Stimme, die den Tenor zum „singenden Erotikon“ macht? Doch auch da sind Zweifel angebracht. Denn gemessen an den traditionellen Maßstäben von „Männlichkeit“ müssten eigentlich die tiefsten und schwärzesten Bässe ganz oben stehen auf der Skala der Publikumsgunst. Zwar gehört, im Zuge der Alten-Musik-Bewegung und der Barock-Renaissance, der Klang von Countertenören und Altisten mittlerweile längst zum Opernalltag (und wird darum nur noch selten als „unmännlich“ oder „weibisch“ abgetan); doch die Meinung, dass eine tiefe Stimme besonders männlich sei, scheint sich bis heute hartnäckig in den Köpfen gehalten zu haben. Tatsache ist, dass ein Tenor oft nicht in der Lage seiner Sprechstimme singt, sondern eine Etage höher – und damit der weiblichen Stimmregion viel näher kommt als ein Bariton oder Baß.
Von daher ist es kein Wunder, dass lyrische Tenöre, die in der Höhe sanfte schöne Kopfklänge hervorbrachten, sich immer wieder den Vorwurf gefallen lassen mussten, „blutarm“ und „blaß“ zu sein – was nichts anderes war als ein versteckter Vorwurf mangelnder „Männlichkeit“. Als zum Beispiel Fritz Wunderlich Ende der 50er Jahre begann, das lyrische Tenorfach in München, Wien und Salzburg zu singen, war immer wieder zu lesen, dass durch ihn nun endlich Mozart-Partien wie Belmonte, Ottavio und Tamino von ihrem „Mauerblümchen-Dasein“ erlöst worden seien. Natürlich sang Wunderlich auch diese Partien mit der ihm eigenen Verve und Vitalität – doch bei wem hat es vorher nach „Mauerblümchen“ geklungen? Sicher nicht bei Wunderlichs Vorgänger und Vorbild Anton Dermota, der bei aller Piano-Kultur kein „blutarmer Säusler“ war; auch nicht bei Rudolf Schock, Peter Anders oder Léopold Simoneau. Dies nur als eines von zahllosen Beispielen dafür, wie diffus die Vorstellungen darüber sind, was denn nun das Männliche und Erotische an einer Stimme oder am Vortrag eines Sängers sei.
Indes, die mitreißende, teilweise überrumpelnde Sinnlichkeit, der in Wunderlichs Stimme schwingt (und der auch die Bach’sche Musik von dem Keuschheitsgürtel befreite, den angeblich „werktreue“ Interpreten angelegt hatten) – diese Sinnlichkeit ist es, der sicher einen großen Teil der Faszination an Tenorstimmen ausmacht.
Das Populäre
Was aber die ungewöhnliche Popularität großer Tenöre betrifft, so dürfte das Repertoire von entscheidender Bedeutung sein, wohlgemerkt das traditionelle Opern-Repertoire von Bellini bis Puccini: Baritone verkörpern in der Regel den Schurken oder den verschmähten Liebhaber, Bässe den Vater oder den Patriarchen. Tenöre aber sind romantische Liebhaber: Männer, die für die Liebe Leib und Leben riskieren. Und sie dürfen eines offenbaren, was bei Baritonen und Bässen meist unter Verschluß bleibt: die empfindsame Seele. Sie dürfen weinen und verzweifeln, ohne dass man sie deshalb als „Waschlappen“ abtun würde – ideale Voraussetzungen für die „Pop“-Kultur der Tenöre, die Anfang des 19. Jahrhunderts einsetzte, mit den Opern Puccinis, Enrico Caruso und der Schallplatte. Seither sind die größten Hits den Tenören vorbehalten, vom „eiskalten Händchen“ bis zu Heimatliedern und Schnulzen zum Muttertag. Insofern verkörpern Tenöre seit hundert Jahren nahezu sämtliche Idealbilder des Mannes: Den Liebhaber und den Kämpfer, den Patrioten und den Idealisten, den treuen Freund und den treusorgenden Sohn. Kurzum: Sie sind bieten nicht nur etwas für Kenner und Genießer von Musik, sie befriedigen die Gefühlsbedürfnisse des Massenpublikums.
Dass Caruso die Schallplatte und die Schallplatte Caruso gemacht hat, ist keine Laune der Gesangshistorie: Der Neapolitaner war der erste Sänger von Weltrang, der auf Platten zeigte, was Oper eigentlich sein kann und soll: Ein Kraftwerk der Emotionen. Er nützte die Technik der klassischen Gesangsschule, um Gefühle hörbar zu machen – während sich die meisten seiner Zeitgenossen, ganz dem alten Gesangs-Ideal verpflichtet, auf die perfekte Ausführung musikalischer Formen bedacht waren. Stark vereinfacht könnte man sagen: Caruso hat die Kunstform Oper, die bis dato den Privilegierten und Reichen vorbehalten war, durch die Wahrhaftigkeit seines Singens vermenschlicht und durch die Verbreitung seiner Platten demokratisiert – dies, wohlgemerkt, auf der Basis der klassischen Gesangslehre und nicht, wie viele nach ihm, auf Kosten des guten Tons.
Dass der Besitz einer göttlichen Stimme nicht zwangsläufig großer Kunst führt, ist eine Binsenweisheit, die Maria Callas einmal sehr anschaulich beschrieben hat, als sie nach einer berühmten Kollegin gefragt wurde: „Ihre Stimme ist eine Stradivari, aber sie sie wird von einem Amateur gespielt. Meine Stimme ist ein einfacher Holzkasten, aber er wird von Paganini gespielt!“
Carusos Stimme war eine Stradivari, die von Paganini gespielt wurde. Von Beniamino Gigli, der weithin als legitimer Nachfolger Carusos gilt, lässt sich das nicht in gleicher Weise behaupten. Sein Instrument war von allererster Qualität, und sein Ton konnte von betörender Weichheit und Süße sein – doch je berühmter er wurde, desto mehr begann er nach Pop-Manier zu singen. Um im Bild der Callas zu bleiben: Seine Stradivari wurde leider allzu oft von einem Schnulzengeiger gespielt. Kritische Zungen haben ihn als „Rattenfänger“ bezeichnet, und nicht nur in Fachkreisen wurde seine Schluchzer-Manier als ebenso überflüssig wie trivial empfunden; in seinen Aufnahmen von „La donna e mobile“ gelingt ihm indes ein suggestives Portrait des Macho-Verführers.
Die „Träne“
„Nach vierzig kommt die Träne in die Stimme“, pflegte Fritz Wunderlich zu sagen, der damit wiederum auf Caruso bezog (dass sie sich bei Wunderlich schon früher zeigte, ist in seiner Aufnahme von Lenskis Arie exemplarisch zu hören). Manche haben aber die „Träne“ oder den Seelenton schon von Anfang an in der Stimme: Zum Beispiel Jussi Björling, der von Kennern als eigentlicher Erbe Carusos angesehen wird. Im Gegensatz zu Gigli verzichtete der Schwede auf jede Art von Veräußerlichung. Er musste nicht schluchzen, um die Herzen von Hunderttausenden zu rühren. Gerade durch sein Maßhalten, sein Singen nach den klassischen Regeln der Gesangskunst, konnte er jede interpretatorische Nuance, jede feinste Seelenregung in Klang umsetzen. Dass die „Träne“ auch noch bei Liedern von überschäumender Lebensfreude hörbar wird, zeigt das Beispiel Joseph Schmidt: Selbst bei Film-Schlagern wie „Heut ist der schönste Tag in meinem Leben“ und „Ein Lied geht um die Welt“ ist der Grundton der empfindsamen Seele unverkennbar; sozusagen in Reinform ist er im vorliegenden Beispiel zu hören, dem melancholischen Lautenlied aus Korngolds Die tote Stadt.
Ist es positiver Rassismus, wenn man feststellt, dass dieser Ton, bei dem Leid und Leidenschaft ganz nahe beieinander liegen, ganz intensiv bei Sängern zu hören ist, die ihre musikalische Grundausbildung Synagogen-Chor erhielten? Die biographischen und klanglichen Parallelen bei Joseph Schmidt, Richard Tucker und Neil Shicoff sind unverkennbar. Andererseits gibt es ähnlich starke Parallelen der Klangfarben bei Sängern ganz unterschiedlicher Herkunft – zum Beispiel bei Giuseppe di Stefano und Jose Carreras in lyrischen, bei Placido Domingo und Ben Heppner in heldischen Partien. Wie auch immer: Zu einem Star-Tenor, der die Gemüter der Massen bewegt, gehört die „Träne“ einfach dazu. Und sicher ist es ein entscheidendes Kriterium für den Geschmack des jeweiligen Künstlers, ob er diese „Träne“ einfach mitschwingen lässt – oder, mit festem Blick auf Publikum und Kasse, kräftig auf die Drüse drückt.
Das hohe C
Vor den Tenören waren die Kastraten die Stars der Oper. Der Preis für den Erfolg war bekanntlich nicht klein, doch all den enthusiastischen Beschreibungen von Zeitzeugen zufolge müssen die Kastraten nicht nur über eine übermenschliche Virtuosität verfügt haben, sondern auch über einen Klang, deren androgyner Reiz viele Hörer verzauberte. Schriftsteller und Chronisten schwärmten sogar davon, dass in der Stimme der Kastraten so etwas wie die klangliche Verwirklichung einer alten Utopie gewesen sei: Das völlige Eins-Sein der Geschlechter.
Nach dem Aussterben der Star-Kastraten übernahmen meist dramatische Altistinnen die jeweiligen Partien, stießen jedoch schnell an Grenzen, sobald eine gesteigerte Dramatik verlangt wurde. So erging es der Sängerin, die 1831 die Titelpartie in der italienischen Erstaufführung von Rossinis Wilhelm Tell singen sollte. Sie sagte ab, und an ihrer Stelle sang der französische Tenor Gilbert-Louis Duprez – jener Sänger, der entschieden dazu beitrug, dass die Tenöre in der Oper die Vormachts-Stellung einnehmen konnten, die zuvor die Kastraten inne hatten. Denn sechs Jahre nach jener italienischen Erstaufführung von Wilhelm Tell debütierte Duprez in derselben Partie an der Pariser Oper (diesmal freilich in der französischen Fassung) – und sang zum ersten Mal das do di petto, das hohe C der Bruststimme. Bis dato war es üblich, dass Tenöre Spitzentöne mit überwiegendem Anteil der Kopfstimme sangen – was dem Ton zwar eine poetische Zartheit gab, jedoch in dramatischen Szenen eher undramatisch wirkte. Das do di petto von Duprez war für die ersten Zeitzeugen ein Schock. Für Rossini klang es „wie der Schrei eines Kapauns, dem soeben die Kehle durchgeschnitten wird.“ Wesentlich differenzierter hat Hector Berlioz die Reaktionen im Zuschauerraum beschrieben: „Im verblüfften Publikum herrscht Schweigen, die Leute halten den Atem an, Staunen und Bewunderung vermischen sich in einem einzigen Gefühl, dem der Angst. Das Gefühl ist wohl gerechtfertigt, bevor die Phrase vollendet ist; doch sobald dies geschehen ist, auf triumphale Weise, kann man sich die wilde Begeisterung vorstellen … Aus der Brust von zweitausend Besuchern brechen Beifallsrufe, wie sie ein Künstler nur ein- oder zweimal in seinem Leben hören wird.“
Ist es diese Lust am Drahtseilakt, am vokalen Stunt, die den Zuhörer seither in die Rolle des Voyeurs treibt und den Sänger in einen Bereich der Selbstdarstellung, den der Dirigent Gustav Kuhn als „Stimmporno“ bezeichnete? Wer einmal die elektrisierenden Spitzentöne von Franco Corelli gehört hat, wird leicht nachvollziehen können, warum viele Hörerinnen und Hörer diese Art von Sound einfach nur „geil“ finden. Es sind Klang-Entladungen nach höchster Anspannung, quasi vokale Orgasmen.
Belcanto und Verismo
Selbstverständlich passt diese Art des Singens nur zu einem Teil des Opern-Repertoires, am besten zu jenem, der allgemein als Verismo bezeichnet wird, also zu den Opern von Mascagni, Leoncavallo, Giordano und Puccini. Der Verismo, eine musikgeschichtliche Form des Naturalismus, war quasi die zeitgemäße Antwort auf die Epoche des schönen Gesangs, des Belcanto. Spätestens mit der Wende vom neunzehnten zum zwanzigsten Jahrhundert galt schöner und virtuos verzierter Gesang als überholt; man wollte den wahren, den lebensnahen Ton, mit allem, was dazu gehört: Schreien und Flüstern, Lachen und Stöhnen, Folter und Mord. Der zweite Akt von Puccinis Tosca bietet nahezu die gesamte Skala solcher „Lebensnähe“. Leider fand die Pioniertat Carusos, das Alte mit dem Neuen zu versöhnen, das neue Repertoire mit klassischer Technik zu singen, nur wenige Nachfolger (zu ihnen zählen Jussi Björling und Carlo Bergonzi). Viele Tenöre nach ihm gestalteten das komplette Tenor-Repertoire mit dem Gestus des Verismo. In den folgenden Jahrzehnten kam es zwangsläufig zu „Spezialisierungen“: Waren Caruso und Björling noch in der Lage gewesen, den Koloraturen des Nemorino in Donizettis L’Elisir d’amore genauso gerecht zu werden wie den dramatischen Ausbrüchen des Canio in Leoncavallos I Pagliacci, wurde spätestens nach 1950 deutlich, dass die unterschiedlichsten Stile und Epochen nur noch in Form von Arbeitsteilung zu bewältigen waren. Seither gibt es lyrische Tenöre mit Schwerpunkt Mozart (Anton Dermota, Léopold Simoneau, Peter Schreier), virtuose Tenöre für Donizetti und Rossini (Luigi Alva, Juan Diego Florez), lyrische Tenöre mit Schwerpunkt Verdi (Giuseppe di Stefano, Carlo Bergonzi, Jose Carreras), dramatische Tenöre für Verdis Otello und Verismo-Partien (Mario del Monaco, Jon Vickers, Placido Domingo) und Wagner-Tenöre (Wolfgang Windgassen, Jon Vickers, James King, René Kollo, Siegfried Jerusalem). Absolute Ausnahmen wie Alfredo Kraus und Nicolai Gedda – der stilistisch und sprachlich Vielseitigste unter den großen Tenören des 20. Jahrhunderts – scheinen die Regel zu bestätigen.
Dass mit den drei Tenören von Rom die Ära des tenor worship längst nicht vorbei ist, zeigen die Karrieren von Ben Heppner, Ramon Vargas, Roberto Alagna, Joseph Calleja und Juan Diego Florez. Sie alle haben, auf ganz unterschiedliche Weise, die große Tradition ihrer Vorgänger weitergeführt – und damit auch den Sonderstatus ihrer Stimmlage behauptet.
Thomas Voigt C 2005