Ein Sonderfall in der Geschichte der Bayreuther Nachkriegs-Aufnahmen: 48 Jahre lang hatte der Mitschnitt der ersten Götterdämmerung Neu-Bayreuths auf Eis gelegen, dann wurde er endlich auf dem Label Testament veröffentlicht, stieß auf überall auf große Resonanz, erhielt von der renommierten Plattenzeitschrift Gramophone sogar einen Special Achievement Award – und musste 18 Monate später wieder vom Markt genommen werden.
Der Vorstand des Bayreuther Festspielorchesters hatte wegen Verletzung von Leistungsschutzrechten geklagt, und das Landgericht Mannheim hatte entschieden, dass die weitere Verbreitung der Aufnahme zu unterlassen sei.
Der detaillierte Bericht zum Rechtsstreit erschien in der August-Ausgabe des FonoForum 2001.
Eigentlich sollte dies ein Beitrag zum Thema Fünfzig Jahre Neu-Bayreuth werden, eine kommentierte Übersicht sämtlicher Aufnahmen aus dieser Ära. Dass es dann ganz anders kam, dass ich mich statt dessen mit einem Rechtsfall auseinandersetzte, der in der Schallplatten-Geschichte einmalig sein dürfte, liegt an einer Aufnahme, die im
Wiedereröffnungsjahr 1951 entstand: Götterdämmerung unter Hans Knappertsbusch. Ein Dokument, das 48 Jahre lang im Archiv der Decca gelegen hatte, bevor es im September 1999 auf dem Label Testament veröffentlicht wurde (s. FonoForum 12/99). Die Resonanz auf diese Ausgrabung war groß: In nahezu sämtlichen Fachzeitschriften wurde die hohe künstlerische Bedeutung und die erstaunliche klangtechnische Qualität der Aufnahme hervorgehoben, von der international renommierten Plattenzeitschrift Gramophone wurde sie sogar mit einem Special Achievement Award bedacht.
Ende März 2001 erging „im Namen des Volkes“ ein Urteil des Landgerichtes in Mannheim, demzufolge die weitere Verbreitung der Aufnahme zu unterlassen ist. Der Grund: Verletzung von Leistungsschutzrechten. Die Kläger: der Vorstand des Bayreuther Festspielorchesters, vertreten durch Prof. Dr. Helmut Schützeichel. Der Beklagte: Stewart Brown, der Chef von Testament. Laut Urteil werden dem Beklagten Herstellung, Vervielfältigung und Vertrieb der Aufnahme untersagt; er ist verpflichtet, über den „Umfang der bisher vorgenommenen Verletzungshandlungen“ Auskunft zu geben und „alle Schäden des Bayreuther Festspielorchesters zu ersetzen“, außerdem hat er die Kosten desRechtsstreits zu tragen.
Was wird dem Beklagten zur Last gelegt? Um das zu klären, muss man weit zurückgehen, nämlich zur Wiedereröffnung der Bayreuther Festspiele im Jahr 1951. Auf dem Programm der ersten Festspiele nach dem Krieg standen damals Vorstellungen von Parsifal (Knappertsbusch) und Die Meistersinger von Nürnberg (Karajan) sowie zwei Ring-Zyklen: der erste unter Karajan, der zweite unter Knappertsbusch. Anwesend waren die Aufnahme-Teams zweier großer Plattenfirmen: Columbia (heute EMI) mit dem Team des legendären Produzenten Walter Legge sowie Decca (Telefunken) mit John Culshaw und Kenneth Wilkinson. Angesichts der Tatsache, dass Knappertsbusch bei Decca, Karajan bei Columbia unter Vertrag stand, hatten sich die Firmen mit der Festspielleitung, dem Orchester und den Sängern dahingehend geeinigt, dass Decca den Parsifal, Columbia die Meistersinger aufnehmen sollte. Beim Ring kam man vorerst zu keiner Lösung.
Um für den Streitfall gut gerüstet zu sein, hatte Walter Legge im Vorfeld mit den Protagonisten des Ring Verträge geschlossen, u. a. mit Astrid Varnay (Brünnhilde), Bernd Aldenhoff (Siegfried), Leonie Rysanek (Sieglinde) und Sigurd Björling (Wotan). Ludwig Weber (Hagen), Elisabeth Höngen (Waltraute), Wilma Lipp (Waldvogel) und seine spätere Ehefrau Elisabeth Schwarzkopf (Woglinde) hatte Legge ohnehin schon unter Vertrag. Außerdem schloss er mit der Leitung der Festspiele, den Wagner-Enkeln Wieland und Wolfgang, einen Vertrag, der der Columbia Graphophone Company für 1951/52 das alleinige Aufnahmerecht bei Aufführungen des Ring und der Meistersinger garantierte. Was u. a. auch bedeutete, dass die Interpreten vom Zeitpunkt der Aufnahme an für die Dauer von sieben Jahren für jedes andere Ring-Projekt auf Schallplatten „gesperrt“ waren.
Zwar äußerten die Wagner-Enkel Bedenken gegen Legges Klausel (wie sollten sie Knappertsbusch beibringen, dass sein Ring nicht aufgenommen werden sollte,wohl aber der unter Karajan?); warum sie aber schließlich einwilligten, geht aus den mir vorliegenden Unterlagen nicht hervor. Wohl aber geben die Memoranden von Walter Legge Auskunft darüber, dass er außer sämtlichen Proben und Aufführungen der Meistersinger den kompletten Karajan–Ring mitschneiden ließ, jedoch keinesfalls daran dachte, ihn auch zu veröffentlichen. Der 51er Zyklus war lediglich als Generalprobe auf Band gedacht; Legge rechnete damit, dass Karajan im nächsten Jahr sämtliche Proben und beide Zyklen des Ring dirigieren würde – genug Material also, um daraus ein ordentliches Mastertape zu erstellen. Wie man weiß, kam es anders: Karajan dirigierte lediglich die Neuinzenierung des Tristan (ein Mitschnitt kam für Legge nicht in Frage, da er kurz zuvor das Werk unter Furtwängler eingespielt hatte), die beiden Ring-Zyklen übernahm Joseph Keilberth, der damals exklusiv bei Telefunken/Decca unter Vertrag stand. Somit mußte Legge sein Karajan–Ring-Projekt aufgeben.
Zurück ins Jahr 1951. Während der Proben installierten beide Aufnahme-Teams ihre Mikrophone im Festspielhaus, und wie sich bald herausstellte, gelangen dem Tonmeister der Decca, Kenneth Wilkinson, weit bessere Resultate als seinen Kollegen von der Columbia, die aus ihrem Staunen über die Klangqualität des Parsifal keinen Hehl machten. In seiner Autobiographie Putting the record straight (Martin Secker & Warburg Ltd., 1981) berichtet der Decca-Produzent John Culshaw, dass er während der Probenzeit immerstärker davon überzeugt war, den Ring unter Knappertsbusch auf Platten verewigen zu müssen. Offenbar wusste er nichts vom Exklusivrecht der Columbia, und anscheinend ließen ihn die Obersten der Decca darüber auch im Unklaren, als sie ihm erlaubten, mitzuschneiden. Culshaw berichtet weiter, dass Rheingold, Walküre und Siegfried für eine Veröffentlichung letztlich nicht in Frage kamen, teils wegen technischer Schwierigkeiten, teils wegen künstlerischer Schwachstellen.
Bei der Götterdämmerung am 4. August 1951 aber klappte alles; Culshaw empfand diese Vorstellung als einen Höhepunkt der ersten Nachkriegs-Festspiele. Kaum in London zurückgekehrt, erstellte er aus dem Bandmaterial ein Mastertape. Decca bahnte die ersten Verhandlungen an – und scheiterte an besagter Exklusivklausel: Selbstredend gab die Columbia ihre Künstler nicht frei, zumal sich Walter Legge entschlossen hatte, vom Karajan-Zyklus doch etwas zu veröffentlichen, nämlich den dritten Akt der Walküre (Varnay, Rysanek, Björling).
Als bekannt wurde, dass nicht Karajan, sondern Keilberth die 52er Ring-Zyklen dirigieren würde, schlug Decca der Columbia einen Deal vor: Falls Columbia die Sänger der Götterdämmerung freigeben würde, könnte sie den Ring unter Keilberth herausbringen. Doch vergebens, die 1951er Götterdämmerung blieb auf Eis. Einem ausführlichen Artikel zufolge, den Mike Ashman für den IOC (International Record Collector, Autumn 1999) verfasste, sollen Decca und EMI in den 1970er und 1980er Jahren versucht haben, die Verhandlungen wieder aufzunehmen, jedoch ohne Erfolg.
Erst Mitte der 1990er Jahre wurde der Fall wieder aufgegriffen, und zwar von Stewart Brown, der auf seinem CD-Label Testament lizensierte Archiv-Aufnahmen sowohl der EMI als auch Decca herausbrachte. Die Verhandlungen begannen erneut, und diesmal konnten sich die Firmen einigen; zwar hatte EMI eine Zeitlang erwogen, den kompletten Karajan–Ring von 1951 zu veröffentlichen, diesen Plan jedoch wieder fallen gelassen, weil die Tonqualität der Legge-Mitschnitte nicht gut genug war. Jetzt war der Weg frei für die Götterdämmerung – oder zumindest schien es so. Brown setzte sich mit den Solisten bzw. deren Erben in Verbindung, schrieb einen Brief an Wolfgang Wagner und schickte ihm eine Vorab-Kopie des Mastertapes. Laut Brown hat Wolfgang Wagner in einem Schreiben geantwortet, dass er versuchen werde, die Rechte mit Vertretern von Solisten, Chor und Orchester zu klären.
Einige Monate später, als Brown bei der Festspielleitung in dieser Sache telefonisch nachfragte, habe ihm Wagners Assistent Stephan Jöris mitgeteilt, dass von Seiten der Festspielleitung einer Veröffentlichung nichts im Wege stünde. Dass Brown diese Information nicht schriftlich hat, ist ein entscheidendes Manko. Aus der Sicht des Orchestervorstands stellt sich die Sache anders dar: Helmut Schützeichel betont, dass sich Brown vor der Veröffentlichung der Aufnahme weder mit ihm noch mit einem anderen Mitglied des Orchesters in Verbindung gesetzt habe.„Dass Brown die Erlaubnis der Plattenfirmen und der Solisten hatte, bedeutet noch lange nicht, dass er die Aufnahme veröffentlichen durfte. Dass er es dennoch tat, ohne uns vorher zu fragen, ist eindeutig eine Verletzung der Leistungsschutzrechte des Orchesters, was ja auch ganz klar aus dem Urteil des Landgerichtes Mannheim hervorgeht.“
Laut Brown waren die Leistungsschutzrechte des Orchesters in jenem Vertrag, den die Columbia mit der Festspielleitung am 28. Juli 1951 geschlossen hatte, eindeutig geklärt, nämlich dahingehend, dass das Orchester seine Rechte für Rundfunk-, Fernseh- und Plattenaufnahmen an die Festspielleitung abgetreten hätte. Und genau das ist der Streitpunkt: Hatten sie oder hatten sie nicht? Laut Gerichtsurteil lässt sich das aus besagtem Vertrag nicht entnehmen; vielmehr sei davon auszugehen, dass das Orchester seine Rechte nicht an die Festspielleitung übertragen habe, folglich sei EMI (als Rechtsnachfolgerin der Graphophone) auch nicht befugt, in die Verbreitung und Vervielfältigung der Aufnahme einzuwilligen. Dieses Recht stünde ausschließlich dem Orchester zu. Weiter heißt es: „Ausdrückliche Vertragsbestimmungen zwischen den Musikern und dem Festspielhaus hinsichtlich der auf den Decca-Bändern festgelegten Aufführung … sind nicht bekannt.“ Demzufolge sei die Klage des Orchestervorstands „zulässig und begründet“.
Warum Legges Vertrag von 1951, der der Columbia/EMI das Recht an sämtlichen Ring-Aufnahmen zusichert, im Fall der Götterdämmerung zwar 1952 galt, als Columbia die Freigabe verweigerte – nun aber, da die EMI die Freigabe erteilt hat, plötzlich nicht mehr gelten soll, dafür gibt das Gerichtsurteil keine überzeugende Begründung. Für Browns Anwalt, Norbert Dzierzenga in Köln, kam das Urteil „völlig überraschend“. Dzierzenga, der seit Jahren die EMI in Fällen von
Leistungsschutz-Rechtsverletzungen vertritt, hatte nicht den geringsten Zweifel daran, dass Brown alles getan hatte, um die Rechtslage vor Veröffentlichung der Aufnahme zu klären. Mit so genannten „Piraten“, die sich über jedes Recht hinwegsetzen (und gegen deren Machenschaften er im Auftrag der EMI oft genug vorgegangen ist), dürfe man Brown auf keinen Fall vergleichen. In diesem Punkt stimmen auch Helmut Schützeichel und sein Anwalt, Dr. Michael Hohl aus Bayreuth, zu: Die Seriosität der Firma Testament stehe außer Frage, Brown sei ein ehrenwerter Mann; aber er hätte sich eben vorher mit dem Orchestervorstand in Verbindung setzen müssen.
Dennoch fragt man sich, ob sich die Sache nicht hätte außergerichtlich regeln lassen. Nach Ansicht von Stewart Brown wäre das möglich gewesen. Hanno Pfisterer von Note 1, der deutschen Vertriebsfirma von Testament, habe gleich nach dem Schreiben der Rechtsanwälte der Kläger angefragt, welche Summe der Orchestervorstand fordere – und zur Antwort bekommen: „Wir fordern kein Geld, sondern dass der Vertrieb der Aufnahme eingestellt wird.“ Selbst als bei der letzten Anhörung vor Gericht gefragt wurde, was denn laut Ansicht der Kläger mit der Aufnahme geschehen solle, offenbar sei es doch ein bedeutendes Dokument, sei die Antwort dieselbe geblieben: Sie wollten kein Geld, sondern die Garantie dafür, dass sämtliche noch nicht ausgelieferten CD-Kopien dieser Aufnahme vernichtet würden. Auch das stellt sich aus Schützeichels Perspektive anders da: „Da die Anwälte von Mr. Brown drohten, uns regresspflichtig zu machen, blieb uns keine andere Wahl, als den Fall vor Gericht zu bringen.“
Wie dem auch sei, es ist zu spät. Die Aufnahme ist vom Markt, der Orchestervorstand hat gewonnen – zumindest juristisch. Doch der Preis ist hoch: Wie steht ein Orchester da, das die Veröffentlichung von Weltkultur-Erbe verhindert? Hätte man in dieser besonderen, rechtlich äußerst komplizierten Sache nicht einmal großzügig sein können – gerade weil es sich eben nicht um einen typischen Fallvon Piraterie handelt? Schützeichel, der am Telefon zugänglich und freundlich klingt, holt tief Luft: „Wir können keine Ausnahme machen.Wenn da jeder kommen wollte …“
Auch für Stewart Brown geht es ums Prinzip. Er hat sehr viel Zeit, Energie und Geld in die Aufnahme investiert und kämpft weiter um sein Recht. Gegen das Mannheimer Urteil hat er Berufung eingelegt und geht demnächst in die zweite Instanz. Dass Schützeichel einen Schadensersatzprozeß gegen ihn anstrengen wird, davon kann man ausgehen. Allerdings dürfte Brown dann im Gegenzug Wolfgang Wagner den Streit verkünden: Der von beiden Wagner-Enkeln unterzeichnete 51er Vertrag, so betont Browns Anwalt Dzierzenga, besagt ausdrücklich, dass die Festspielleitung die Klärung sämtlicher Rechte garantiert.
Wie steht es aber um die Leistungsschutzfrist der Aufnahme? Nach § 81 des Urheberrechtsgesetzes läuft sie am 31. Dezember dieses Jahres ab, wäre das Dokument demnach nicht ab nächstem Jahr „frei“? Laut Michael Hohl ist dies eindeutig nicht der Fall: Nach seiner Auffassung gilt die Schutzfrist nur für Aufnahmen, deren Veröffentlichung vertraglich vereinbart wurde – somit weder für die Götterdämmerung noch für andere nicht-autorisierte Aufnahmen, ganz gleich welchen Alters. Schützeichel betont, dass das Orchester großes Interesse daran hat, die alten Bayreuther Mitschnitte in bestmöglicher Klangqualität herauszubringen. Den Ring unter Rudolf Kempe zum Beispiel. Oder den legendären Tristan unter Carlos Kleiber. In dieser Sache verhandle man schon seit längerer Zeit mit einer Plattenfirma. Nur sei es nicht so einfach, eine seriöse Firma davon zu überzeugen, Aufnahmen herauszubringen, die schon in diversen Piraten-Ausgaben auf dem Markt kursierten und weltweit zigtausend Mal verkauft wurden – für ihn ein Grund mehr, gegen jeden vorzugehen, der nicht-autorisierte Aufnahmen vertreibt.
Trotzdem und noch einmal: Der Fall Götterdämmerung ist und bleibt ein Ausnahmefall. Und nicht nur Astrid Varnay, deren grandiose Brünnhilde in jener Aufführung dokumentiert ist, muss sich angesichts dieses Rechtsstreits fragen: Wem ist damit genützt? Was bringt es dem Orchester? Laut Gerichtsurteil steht ihm ein Schadensersatzanspruch zu. Doch wofür? Welcher Schaden wurde ihm durch die Veröffentlichung der Götterdämmerung zugefügt? Für einen normal denkenden Menschen dürfte das weit schwieriger zu beantworten sein als die Frage, welchen Schaden sich das Orchester in diesem Fall selbst zugefügt hat, nämlich hinsichtlich seiner Reputation.
Thomas Voigt (C) 2001