„Wir müssen die Unverwechselbaren finden, die uns aufhorchen lassen, die wir sehen, wenn wir die Augen schließen.“ Was August Everding vor vielen Jahren beim ersten Durchgang des Wettbewerbs Neue Stimmen sagte, hat heute mehr Dringlichkeit denn je. Je stärker die Folgen von Internationalisierung und Globalisierung unseren Alltag bestimmen, desto größer wird die Sehnsucht nach dem Individuellen und Einzigartigen.
Wo sind die Unverwechselbaren, die uns aufhorchen lassen? Wo die großen Persönlichkeiten? An human ressources – um den übelsten aller Anglizismen zu zitieren – mangelt es nicht. „Material“ ist ausreichend vorhanden. Aber wie wird aus diesem Material etwas Unverwechselbares? Wie wird ein Mensch, was man „Persönlichkeit“ nennt?
Mit Talent wird man geboren, Persönlichkeit muss sich entwickeln. Das wird selten so deutlich wie in der Welt der Oper. Es gibt immer mehr Sänger, die durch erstklassiges Singen beeindrucken und immer weniger, die als Persönlichkeit faszinieren. Dieses Missverhältnis hat eine große Sängerin folgendermaßen beschrieben: „Bei vielen Sängern, die heute ganz groß herauskommen, beobachte ich immer wieder dasselbe: Technisch sind sie besser als ich es je war. Auch musikalisch und stilistisch ist alles perfekt. Sie haben gelernt, alles zu singen, in allen Sprachen und in allen Stilrichtungen. Und sie sind sehr gescheit und gebildet. Aber, ich kann mir nicht helfen: Es klingt mir oft so gezüchtet, antrainiert. Und etwas Entscheidendes fehlt: Das Singen aus vollem Herzen und mit dem ganzen Körper. Das Ursprüngliche, Kreatürliche oder, wenn Sie so wollen, das Animalische.“ Was Martha Mödl 1997, nach 55 Berufsjahren, spontan im Gespräch äußerte, beschreibt die hauptsächlichen Ursachen für den allgemeinen Verlust an Persönlichkeit. Betrachten wir jeden einzelnen Punkt genauer.
„Sie sind technisch viel besser.“
Die Aufnahmen von Martha Mödl scheinen das berühmte Zitat von Yehudi Menuhin zu bestätigen, demzufolge Ausdruck der größte Feind der Technik ist. Die Mödl warf sich mit solcher Unbedingtheit in ihrer Rollen, dass sie kurzatmig wurde und manchen Spitzenton nur mit Mühe und Not erreichte. Doch ich wage zu behaupten: Wenn sie technisch absolut souverän gesungen hätte, wäre sie als Brünnhilde, Isolde und Kundry nicht annähernd so aufregend gewesen, wie es ihre Platten dokumentieren. Und in dieser Hinsicht war sie keineswegs ein Ausnahmefall. Viele große Sänger waren technisch alles andere als perfekt. Lotte Lehmann zum Beispiel. Wäre ihr Gesang genauso zu Herzen gegangen, wenn sie eine bombensichere Technik gehabt hätte? Wäre Paul Schöffler eine so markante Bühnenpersönlichkeit gewesen, wenn seine Stimme in reinstem Ebenmaß geströmt hätte? Wäre Ljuba Welitsch die „Salome des Jahrhunderts“ geworden, wenn sie nicht mit dem Kapital, sondern immer „auf Zinsen“ gesungen hätte? Hätte Tito Gobbi als Scarpia Shakespeare-Format gehabt, wenn er so mühelos gesungen hätte wie Robert Merrill? Wäre Hätte Leonie Rysanek in der oberen Quart so aufregend geklungen, wenn ihre Stimme von oben bis unten völlig ausgeglichen gewesen wäre?
Die Liste ließe sich endlos fortsetzen. Immer wieder haben Sänger mit gesangstechnischen Defiziten das Unverwechselbare hervorgebracht – Kunst ist nicht zuletzt auch das Resultat von Kompensation. Bei niemandem lässt sich das so detailliert studieren wie bei der Callas. Vor diesem Hintergrund frage ich mich, ob nicht eher die Umkehrung der Menuhin-These zutrifft, nämlich dass Technik der größte Feind des Ausdrucks sein kann – wenn sie den Sänger dazu verführt, sich auf die Produktion makelloser Töne zu beschränken. Wir alle kennen berühmte Beispiele von Stimmbesitzern, bei denen ein Ton schöner als der nächste ist – und die uns nach zwanzig Minuten furchtbar langweilen. Diese Sänger riskieren rein gar nichts; alles, was die lupenreine Tonproduktion stören könnte, wird eliminiert, und dazu zählen auch unbequeme Konsonanten und interpretatorische Akzente. So klingt eine Phrase wie die nächste, eine Rolle wie die nächste, eine Stimme wie die nächste.
Um nicht missverstanden zu werden: Selbstverständlich muss jeder Sänger die Gesangstechnik so weit beherrschen, dass er die Schwierigkeiten seiner Partien bewältigt, eine lange Oper durchhält und über lange Jahre singen kann. Außerdem kommt das ureigene Timbre eines Sängers nur durch entsprechende technische Schulung zum Vorschein. Eine solide Gesangstechnik ist das Fundament zur professionellen Ausübung des Sängerberufes. Nur gehört zu einem Haus doch einiges mehr als das Fundament.
Auch wäre es ein gewaltiger Irrtum, die absolute Beherrschung der Stimme mit reiner Schönsingerei oder leerem Virtuosentum gleichzusetzen. Denn wozu dient Technik letztlich? Sie sorgt dafür, dass der Körper in der Lage ist, Seele und Geist zum Klingen zu bringen. Und dass Technik und Ausdruck sehr wohl in Einklang zu bringen sind, ja dass fundierte Technik erst einen bestimmten Grad an Ausdruck ermöglicht, zeigen etliche Aufnahmen von Enrico Caruso bis Carlo Bergonzi, von Rosa Ponselle bis Elisabeth Schwarzkopf, von Frida Leider bis Christa Ludwig, von Titta Ruffo bis Fritz Wunderlich. Diese Balance von Handwerk und Kreativität, Stimme und Persönlichkeit ist das Höchste, was ein Sänger erreichen kann.
In den 50er und 60er Jahren legte man eindeutig größeren Wert auf Persönlichkeit. Heute wird vor allem Wert auf eine gute Technik gelegt – wie sollte es auch anders sein in einer hochtechnisierten Welt? Insofern ist es nur logisch, dass das allgemeine gesangstechnische Niveau heute deutlich höher ist als in den 50er und 60er Jahren. Das zeigt sich nicht nur bei Mozart, sondern vor allem im Barock- und Belcanto-Repertoire. Es gibt ein reiches Reservoir an Mezzosopranen, Tenören und Countertenören, die das verzierte Repertoire von Händel bis Rossini souverän beherrschen. Für Giulio Cesare und La Cenerentola kann man inzwischen vier Weltklasse-Besetzungen aufbieten, für Tosca und Aida kaum noch eine. Dementsprechend haben sich die Schwerpunkte des Repertoires deutlich verlagert. Dass diese Entwicklung eine Fülle beglückender Aufführungen und Aufnahmen hervorgebracht hat, steht außer Frage. Und dass es bei den Sängern des verzierten Repertoires neben Cecilia Bartoli noch etliche andere gibt, die in ihrer Art unverwechselbar sind, wird niemanden bestreiten können.
Aber wo sind zum Beispiel die Unverwechselbaren für Mozart? Schließen wir also, wie Everding riet, die Augen und versuchen zu erkennen. Die Aufnahmen jüngeren Datums unterscheiden sich vor allem in der Lesart des Dirigenten (Harnoncourt, Gardiner, Östman, Christie u.a.). Bei den Sängern aber klingt vieles ähnlich, nur ganz wenige (etwa Cecilia Bartoli, Bryn Terfel, Uwe Heilmann oder Luba Orgonasova) kann ich auf Anhieb heraushören. Bei Aufnahmen aus den 50er, 60er und teilweise auch 70er Jahren ist meine Trefferquote ungleich höher: von Sena Jurinac bis Julia Varady, von Nan Merriman bis Brigitte Fassbaender, von Anton Dermota bis Peter Schreier, von Gottlob Frick bis Martti Talvela gibt es nur wenige, bei denen ich daneben tippe. Fast sind alle von unverkennbarer Eigen-Art und damit sofort zu identifizieren.
Noch deutlicher wird der Verlust von Persönlichkeit bei Aufnahmen der Opern von Verdi, Wagner, Puccini und Strauss. Warum erreichen und bewegen mich viele Sänger dieser Generation mehr als die heutigen? Alte Hörgewohnheiten? Nostalgie? Sehnsucht nach der verlorenen Zeit? Ganz von der Hand zu weisen ist das nicht: Einen Großteil der alten Aufnahmen habe ich als Kind kennen gelernt, und bekanntlich prägen erste Erfahrungen am stärksten. Doch wenn „jungfräuliche“ Hörer (z. B. Seminar-Teilnehmer bei der Werkstatt für junge Musikkritiker Bonn/Bayreuth) ähnlich reagieren, werde ich nachdenklich: Wieso ist das, was vor dreißig Jahren noch die Regel war, heute die Ausnahme? Warum gibt es so wenig Unverwechselbares, wieso klingt heute vieles so anonym und austauschbar?
Diese Frage führt uns zur nächsten Aussage im Zitat von Martha Mödl:
„Sie haben gelernt, alles zu singen, in allen Sprachen und in allen Stilrichtungen.“
Sprachlich und stilistisch so vielseitige Sänger wie Nicolai Gedda, Eleanor Steber und Eileen Farrell waren früher die Ausnahme. Doch im Zuge der „Internationalisierung“ haben sich die Verhältnisse deutlich geändert. Wer nur Partien in seiner Muttersprache beherrscht, hat auf dem internationalen Sängermarkt heute wenig Chancen. Deshalb geben sich die meisten Sänger große Mühe, möglichst viele Sprachen und Stilrichtungen zu beherrschen – und laufen Gefahr, in keiner Sprache und in keinem Repertoire wirklich zu Hause zu sein. Nun heißt es, dass Musik als Weltsprache alle Grenzen und Barrieren überwindet. Und angesichts der multinationalen Besetzung in mitteleuropäischen Theatern und Orchestern möchte man auch gern daran glauben. Wenn aber eine Aufführung in Paris genauso klingt wie in Wien, Berlin und New York, muss man sich fragen, ob „Internationalität“ auf kulturellem Gebiet nichts anderes ist als ein Euphemismus für weltweite Gleichmacherei. Um nicht Beifall von der falschen Seite zu bekommen, möchte ich in diesem Kontext deutlich unterscheiden zwischen Nationalismus und nationaler Identität. Nationalismus braucht man weder in Deutschland noch in irgendeiner anderen Nation. Doch mit Gleichmacherei ist der Völkerverständigung wenig gedient. Kultur braucht nationale und sprachliche Identität, im Sinne von Eigen-Art, Unverwechselbarkeit, Signifikanz. Wie sehr uns diese abhanden gekommen ist, sehen wir schon an der Esskultur: Wo es einmal Böhmische Knödel und Wiener Schnitzel, Pasta und Paella gab, stehen heute die Filialen von McDonalds und Burger-King. Auch in der „universalen“ Sprache der Musik führt „Globalisierung“ unweigerlich zum allmählichen Verlust nationaler und sprachlicher Identität. Daraus zu folgern, dass man im Opernbetrieb das französische Repertoire nur noch mit Franzosen, das deutsche nur noch mit Deutschen besetzen sollte, wäre natürlich blanker Unsinn. Nein, es geht darum, auch auf internationalen Bühnen die durch Herkunft und Sprache bedingte Eigen-Art zu bewahren. Ich bin überzeugt, dass Wieland Wagner André Cluytens, Régine Crespin und Rita Gorr nicht zuletzt deshalb nach Bayreuth holte, weil sie für Wagner andere Klangfarben mitbrachten als Künstler aus dem deutschen Sprachraum; er wollte die besondere Handschrift und Persönlichkeit dieser Künstler und nicht irgendeinen „internationalen“ Sound.
Nirgendwo wird der Verlust von nationaler Identität im Musikleben so deutlich wie bei Aufnahmen des französischen Repertoires. Man vergleiche nur die Aufnahmen von Carmen und Hoffmann unter Cluytens mit den Einspielungen der letzten zwanzig Jahre. Ausgerechnet in der „Grand Nation“, die so viel Mühen unternimmt, ihre Sprache „rein“ zu halten von internationalen Einflüssen, scheint man auf idiomatische Interpretationen kaum noch Wert zu legen. Fehlen die geeigneten Sänger? Nein, es hat in erster Linie wirtschaftliche Gründe. Spätestens seit der Einführung der CD müssen kostspielige Neuproduktionen so besetzt sein, dass sie sich auf der ganzen Welt gut verkaufen. Es müssen internationale Produktionen mit großen Namen sein, sonst macht man keinen Profit. Entsprechend unidiomatisch und unpersönlich geraten die Aufnahmen.
Natürlich sind Sänger nicht nur Opfer dieser Entwicklung. Sie haben auch kräftig dazu beigetragen, oft durch den falschen Ehrgeiz, alles zu singen und alles zu können, was man von ihnen verlangt – statt sich auf das zu konzentrieren, was sie am besten können. Und das steht nur scheinbar im Widerspruch zur dritten Aussage im Zitat von Martha Mödl:
„Sie sind sehr gescheit und gebildet.“
Denn Intelligenz und Bildung sind nicht selten die Ursache für falschen Ehrgeiz. Wer alles zu wissen meint und zu sehr seinem Intellekt vertraut, läuft Gefahr, Instinkt und Intuition zu vernachlässigen. Doch im Zweifelsfall ist der Instinkt für Sänger ein besserer Ratgeber als der Intellekt. Mit gutem Grund gibt es den Begriff „Sänger-Intelligenz“: Beim Singen intuitiv das Richtige zu tun, ohne es hinterher genau beschreiben zu können. Auch hier ist ein Vergleich zwischen früher und heute erhellend: Wenn ich Interviews aus den 50er und 60er Jahren lese, wundere ich mich oft, wie oberflächlich und pauschal die Aussagen mancher Sänger klingen, die ich als große Interpreten schätze; offenbar konnten sie sich viel besser im Singen mitteilen. Heute scheint die Tendenz eher in die umgekehrte Richtung zu gehen: Eloquent im Gespräch, pauschal im Gesang. Natürlich gibt es immer wieder Ausnahmen: Große Lied-Interpreten wie Thomas Hampson, Matthias Goerne und Ian Bostridge oder eloquente Sänger wie Vesselina Kasarova, Bryn Terfel und Angela Gheorghiu, nebst einigen Sängern des verzierten Repertoires.
Aber wo sind die schlichten Gemüter, die auf der Bühne zu großen Interpreten mutieren? Niemand hat diese Verwandlung so treffend zum Ausdruck gebracht wie Hugo von Hofmannsthal in seiner Ariadne: Durch Instinkt wird aus der eitlen Primadonna des Vorspiel die große Künstlerin der Oper. Und das hat wiederum niemand so deutlich gemacht wie Elisabeth Schwarzkopf in der klassischen Aufnahme unter Karajan. Bei dieser hochintelligenten Sängerin sind viele Hörer geneigt anzunehmen, dass sie vor allem aus dem Intellekt gestaltete. Doch hat die Schwarzkopf in Interviews wiederholt betont, dass sie sich in erster Linie von ihrem musikalischen Instinkt leiten ließ.
Noch einmal: Singen ist etwas Ganzheitliches. Wer beim Singen seinen Intellekt über Instinkt und Emotion stellt, bringt sich und den Zuhörer um das Beste, was er geben kann. Bei einem konzertanten Freischütz habe ich einmal eine Sängerin als Ännchen erlebt, die normalerweise das „große“ Fach (Konstanze, Pamina, Lulu) singt. Und fast mit jeder Zeile, die sie sang und sprach, schien sie dem Publikum zu sagen: „Glaubt bloß nicht, dass ich eine dumme Soubrette bin!“ Und ich wünschte mir sehnlichst, dass an ihrer Stelle eine Soubrette gewesen wäre, eine mit Charme, Witz und Herz.
Vielleicht müssen Sänger heute mehr Wissen und Intelligenz zeigen, um sich auf dem Markt und in Diskussionen mit Regisseuren oder Dirigenten behaupten zu können. Denn eines ist klar: Vom Primat des Singens kann längst nicht mehr die Rede sein. Früher sprach man von Tebaldis Tosca und Vinays Otello; heute von Mutis Trovatore und Konwitschnys Parsifal. Den Status des Individualisten, der gleichberechtigten Persönlichkeit genießen heuten nur noch ganz wenige Sänger. Die meisten fallen in die Kategorie „human ressources“: Material, das sich nach Herzenslust formen und verarbeiten lässt. Wer aufmuckt oder nicht ins Konzept passt, wird ausgetauscht. Wie soll sich unter solchen Umständen so etwas wie Persönlichkeit entwickeln? Und wenn sie sich nach dem Gesetz der Kompensation dennoch entwickelt, gilt der Betreffende schnell als „schwierig“. Christa Ludwig sagte es schon vor 14 Jahren: „Eine große Persönlichkeit wird als störend empfunden. Man braucht Leute, die reibungslos funktionieren“.
Die braucht man vor allem in der Platten-Branche. In Ermangelung echter Individualisten werden Leute, die reibungslos funktionieren, zum „Star“ gemacht. Dass sich diese irgendwann von ihren „Machern“ emanzipieren, steht nicht zu befürchten: Denn ohne gewaltigen PR- und Marketing-Apparat sind sie wieder ganz schnell unten. Wie so vieles, was zum Niedergang des Klassik-Marktes beigetragen hat, sind auch derart konstruierte Karrieren Übernahmen aus dem Pop-Business.
Dass die Diktatur des Massengeschmacks in den Medien jede Entfaltung und Entwicklung von künstlerischer Persönlichkeit verhindert, muss nicht extra ausgeführt werden; „Deutschland sucht den Super-Star“ sagt eigentlich alles. Und dass die Öffentlich-Rechtlichen dem Terror der Einfaltquote immer mehr nachgeben, ist eines der traurigsten Kapitel neudeutscher Kulturgeschichte.
Insofern ist es fast ein Wunder, dass wir auf der Opernbühne immer noch Künstler erleben, die sich ihre Eigen-Art erhalten haben. Wie zum Beispiel die Frau, die im Alter von zehn Jahren ihr erstes öffentliches Konzert gab. Heute, mit 63, gilt Anja Silja als eine der „letzten großen Persönlichkeiten“ der Opernbühne. Was das konkret bedeutet, kann man en detail studieren, wenn sie als Küsterin in Jenufa, Elina Makropoulos oder in Poulencs Les Dialogues des Carmélites auf der Bühne steht. Ein Blick, eine Handbewegung, eine Drehung des Kopfes – und sie ist eins mit der Figur. Dazu ihre Art, etwas anzusprechen, einen Ton anzusetzen, ihm Dringlichkeit zu geben. Ich werde nie vergessen, wie ich zum ersten Mal ihre Küsterin sah. Es war nicht live, sondern ein Video, der Mitschnitt der Lehnhoff-Aufführung in Glyndebourne. Und was da aus dem kleinen Guckkasten kam, wirkte so gewaltig nach, dass ich für den Rest des Abends kaum noch ansprechbar war.
Solche Schlüssel-Erlebnisse machen unmissverständlich klar, dass es beim Singen und Darstellen um Dimensionen geht, die außerhalb dessen liegen, was man mit Intelligenz, Wissen und Technik erreicht. Als Sänger „perfekt funktionieren“ zu müssen (oder zu wollen) ist schlichtweg grotesk. Perfekt funktionieren kann nur die Maschine. In der Kunst bedeutet Perfektion das Ende jeder Menschlichkeit.
Thomas Voigt © 2004