Es gibt historische Aufnahmen, bei denen man wahrscheinlich nie ganz wird klären können, unter welchen Bedingungen sie zustande kamen. Zu diesen Dokumenten gehört auch die Jenufa mit Trude Eipperle und Margarete Klose.
Als einzige verlässliche Quelle zu Besetzung und Aufnahmedatum konnte ich bisher nur die WDR-Chronik Zwanzig Jahre Musik im Westdeutschen Rundfunk. Eine Dokumentation der Hauptabteilung Musik 1948-1968 ausfindig machen. Dort wird als Aufnahmedatum „August 1949“ genannt. Was aber sofort stutzig macht, sind folgende Angaben: „Chor der Städtischen Bühnen Köln, Gürzenich-Orchester“. Handelte es sich also nicht um eine Rundfunkproduktion, sondern um die Aufzeichnung einer Aufführung in der Aula der Universität, dem damaligen Notquartier der Kölner Oper? Gegen diese Vermutung aber spricht eindeutig das Klangbild: So klingt kein Mitschnitt einer Aufführung. Die Sänger sind ganz dicht vor dem Mikrophon, und man hört weder beim Tanz der Rekruten und Musikanten irgendwelches Fußgetrampel, noch beim Aufruhr im dritten Akt. Wurde das Gürzenich-Orchester ins NWDR-Studio geholt, weil es bereits mit dem Werk durch Aufführungen vertraut war?
Die Durchsicht der Theaterzettel im historischen Archiv der Stadt Köln brachte mich einen Schritt weiter: Zwar gibt es einige Lücken in der Sammlung, doch enthält der Sammelband der Spielzeit 1949/50 immerhin eine Jenufa vom 2. September 1949. Als Regisseur wird Erich Bormann, als Dirigent Richard Kraus genannt, und die Besetzung ist mit der vorliegenden Einspielung identisch – bis auf drei Ausnahmen: Als Küsterin wird Irmgard Gerz, als Stewa Karl Bernhöft, als alte Buryja Charlotte Fondermann angeführt. Da es sich um einen Freitagabend handelt, nehme ich an, dass dies nicht die Premiere, sondern eine Folgevorstellung war. Wann aber könnte die Premiere gewesen sein? In den letzten Monaten der vorherigen Spielzeit, die einigermaßen vollständig dokumentiert sind, taucht Jenufa kein einziges Mal auf.
Folgendes wäre wahrscheinlich: Dass die Premiere Ende August war und die Aufnahme quasi unter Live-Bedingungen während der Endprobenphase entstand, entweder in der Universitätsaula oder in einem Studio des NWDR; dass man also die Bühnenproduktion quasi vorab konzertant dokumentierte. Über all diese Dinge bräuchte man heute nicht nachzugrübeln, wenn man beim (N)WDR damals gewissenhafter mit dem Archivbestand umgegangen wäre. Wie die meisten Gesamtaufnahmen aus den Jahren 1948-1952, wurde auch die Aufzeichnung der Jenufa nach der Erstausstrahlung einfach „gelöscht“. Warum damals Weltkulturerbe mutwillig vernichtet wurde und auf wessen Weisung dies geschah, ist heute natürlich nicht mehr zu eruieren. Immerhin, im Fall Jenufa blieb uns die Aufführung durch den Privatmitschnitt eines Radiohörers erhalten, wenn auch nicht vollständig (siehe Anmerkungen des Herausgebers).
Ob Margarete Klose und Julius Katona zum Kölner Premierenteam gehörten oder aus Berlin für die Aufnahme eingeflogen wurden, konnte ich im vorgegeben Zeitrahmen nicht mehr recherchieren. Und noch ein drittes Jenufa-Rätsel bleibt vorerst ungelöst: Das Datum der Berliner Premiere (mit Klose, Wasserthal, Wilhelm, Suthaus; Kraus). Auf dem berühmten Küsterin-Portrait der Klose, das sich im Archiv für Kunst und Geschichte (AKG) Berlin befindet, steht „Städtische Oper Berlin 1949“; dieselbe Angabe findet man in einem Internet-Portrait der Sängerin (www.cantabile-subito.de/Contraltos/Klose). Hingegen wird in der Chronik „Das Charlottenburger Opernhaus von 1912 bis 1961“ (Berlin 1988) als Premierendatum der 8. Mai 1954 angegeben, und auch ein Foto aus dem Archiv Buhs/Remmler mit Klose und Suthaus trägt den Vermerk „Mai 1954“.
Zentrales Dokument der Klose
Dreißig Jahre Berliner Oper lautete das Motto für das musikalische Selbstportrait von Margarete Klose (1902-1968) beim NDR. 1931 gab sie ihr Debüt an der Berliner Staatsoper, 1961 ihren Abschied. Sie war die führende deutsche Mezzosopranistin im dramatischen Fach, der Maßstab als Ortrud, Fricka, Brangäne, Azucena, Amneris, Eboli und Klytämnestra. Das Dritte Reich und der Zweite Weltkrieg verhinderten eine Weltkarriere, doch immerhin konnte die Klose 1953 in San Francisco das Versäumte teilweise nachholen – als Klytämnestra, Brangäne und Fricka unter der Leitung von Georg Solti sowie als Azucena in Aufführungen unter Tullio Serafin.
Auf Tonträgern ist die Klose heute präsenter denn je: Allein von ihrer Ortrud, mit der sie 1936 ein sensationelles Bayreuth-Debüt gab, sind drei Gesamtaufnahmen und diverse Ausschnitte von Aufführungen verfügbar. Aber ich wage zu behaupten, dass kaum eine Aufnahme den Sonderrang dieser großartigen Sängerin so gut dokumentiert wie die vorliegende. Denn hier kann die Klose noch mehr Farben zeigen als bei der Ortrud, die ganze Skala vom liebenden Muttertier bis zur Kindsmörderin aus Verzweiflung. Wenn sie ihren Haß auf Stewa und das uneheliche Kind herausschleudert, wenn sie Jenufa zärtlich zu Bett führt, wenn sie Stewa anfleht, das Kind wenigstens einmal anzusehen, wenn sie schließlich, um Jenufa zu retten, den verzweifelten Entschluß fasst, das Baby zu ertränken („O Gott, du weißt, dass es geschehen muß. Denn es geht nicht anders“) und nach Ausführung der Tat unter Gewissensqualen zusammenbricht – dann ist es fast unmöglich, völlig unberührt zu bleiben. Was nota bene nicht bedeutet, dass man vor lauter Rührung jeden Sinn für kritisch-analytisches Hören verliert. Wer genau hinhört und die Aufnahmen von Kniplova, Varnay, Randova, Rysanek und Silja im Ohr hat, wird feststellen, wie souverän die Klose fast alle Problemzonen der Partie bewältigt, die Legatobögen und das Parlando, die heiklen Pianophrasen („Ich war so stolz auf dich“, „Im Augenblick“) genauso wie den dramatischen Höhepunkt am Ende des zweiten Aktes. Nur beim inneren Monolog kommt sie an ihre Grenze und umgeht die Gipfel-Phrase mit dem hohen B, indem sie in die Sprechstimme wechselt („Da seht ihr! Die Küsterin!“). Dafür bietet sie in ähnlich exponierten Phrasen („Sündig stirbt es!“ / „Grad als ob der Tod hätt hereingegrinst!“) wahre Flammenwerfer von Spitzentönen. Und dass man von ihrem Text fast jedes Wort versteht, liegt sicher nicht nur an der sehr sängerfreundlichen Positionierung der Mikrophone.
Auch Trude Eipperle (1910-1997) artikuliert die deutsche Übersetzung von Max Brod zum Mitschreiben klar, ohne dadurch im Geringsten die musikalische Linie zu beeinträchtigen – ja, vielleicht ist sie neben Elisabeth Grümmer der beste Beweis dafür, dass sich vorbildliche Diktion und bruchloses Legato sehr wohl vereinen lassen. Was bei ihr außerdem immer wieder fasziniert ist die Reinheit und absolute Mühelosigkeit ihres Singens. Reinheit sowohl hinsichtlich der Intonation als auch im Sinne von „Unschuld“ – ideale Voraussetzungen für eine Pamina, Agathe, Elsa, Tannhäuser-Elisabeth, Eva, Desdemona, Tatjana, Zdenka und Daphne. Und was die Mühelosigkeit betrifft: Ich habe bei der Eipperle immer das Gefühl, dass es keine einzige Phrase gibt, mit der sie Schwierigkeiten hat. Die Stimme ist von oben bis unten aus einem Guß und strömt mit einer Selbstverständlichkeit, die völlig stressfreies Zuhören ermöglicht: Man lehnt sich zurück in der Gewissheit, dass alles gut geht. Das mag für manche Hörer wenig „aufregend“ klingen, doch wenn man an all die grellen Stimmen denkt, die man in diesem Fach in den letzten zwanzig Jahren an ersten Häusern gehört hat, kann man für das vokale Ebenmaß der Eipperle nur dankbar sein. Zudem weckt ihre bewegende Darstellung der Jenufa beim Hörer sämtliche Beschützerinstinkte. Dass sie in den 50er Jahren zu den populärsten Sängerinnen gehörte, ist vor allem auf ihre Präsenz im Rundfunk zurückzuführen. Allein beim NWDR war sie zwischen 1947 und 1951 bei fünfzehn Gesamtaufnahmen beteiligt. Zu dieser Zeit war sie die erste lyrische Sopranistin in Köln. 1951 wechselte sie nach Stuttgart und gehörte bis zu ihrem Bühnenabschied Mitte der 60er Jahre zum legendären Ensemble von Walter Erich („Papa“) Schäfer.
Nahezu ideal besetzt ist auch die Partie des Stewa: Julius Katona (1902-1977) war in diversen Operetten-Aufnahmen der Tenorpartner der Eipperle, und seine Meisterschaft in diesem Genre kommt der Figur des Stewa ebenso zugute wie seine Erfahrung mit Rollen wie Rodolfo und Don José: Bei ihm spürt man, dass sich hinter der Fassade des Dorf-Casanovas ein schwacher und unsicherer Mensch verbirgt. Und er singt die knifflige Partie so souverän, als wäre es eine schlichte Volksweise. Selbst die Passage „Bist ja doch die Aller-, Aller-Schönste!“, die schon manchem Tenor die Kehle zugeschnürt hat, macht ihm kaum zu schaffen. Nach Engagements in Essen, Wiesbaden, Nürnberg und Hamburg kam Katona 1942 nach Berlin, wo er u. a. in der Uraufführung von Nico Dostals Manina auftrat. Von 1947-61 gehörte er zum Ensemble der Berliner Staatsoper, danach wechselte er zur Deutschen Oper Berlin, wo er noch einige Jahre im Charakterfach zu erleben war.
Wilhelm Otto (1907-1985), der Sänger des Laca, begann seine Bühnenlaufbahn 1933 als Lohengrin in Ulm. Nach Engagements in Lübeck, Schwerin und Stuttgart kam er 1945 nach Köln, wo er bis 1959 das große Tenorfach sang: Tamino und Florestan, Parsifal und Palestrina, Siegmund und Siegfried, Loge und Herodes. Außerdem wirkte er bei diversen Ur- und Erstaufführungen mit, u. a. in Braunfels Verkündung (UA 1948), Hartmanns Simplicius Simplicissimus (UA 1949), Fortners Bluthochzeit (UA 1957) und Brittens The Rape of Lucretia. Die vorliegende Aufnahme – meines Wissens derzeit die einzige des Sängers – zeigt ihn als charaktervollen, flexiblen Heldentenor, der dem Vergleich mit bekannteren Sängern wie August Seider und Günther Treptow mühelos standhält.
Von den übrigen Kräften des Kölner Ensembles beeindruckt vor allem Ilse Ihme-Sabisch als Alte Buryja – offenbar eine klassische deutsche Altstimme aus jener Tradition, deren letzte große Vertreterin Marga Höffgen war.
Richard Kraus (1902-1978), der Sohn des berühmten Wagnertenors Ernst Kraus, war zum Zeitpunkt der Aufnahme GMD an der Kölner Oper. Von 1945-48 hatte Günter Wand dieses Amt inne gehabt, zusätzlich zu seiner Position als Chef des Gürzenich-Orchesters. Da aber auf Dauer beide Posten nicht von einem Mann zu bewältigen waren, trat Wand seine „Opern-Stelle“ 1948 an Kraus ab. Kraus war damals 46 und hatte bereits 26 Opern-Jahre hinter sich. Noch während seiner Ausbildung am Stern’schen Konservatorium in Berlin wurde er 1922 an die Berliner Staatsoper engagiert, wo er nach dem Ausscheiden von Dimitri Mitropoulos zunächst als Korrepetitor, später auch als Assistent von Erich Kleiber arbeitete (der andere Assistent hieß Berthold Goldschmidt). Nach der damals noch üblichen Ochsentour durch die Provinz wurde Kraus 1937 GMD in Halle. In Bayreuth, wo er zuvor schon assistiert hatte, leitete er 1942 die Serie der Holländer-Aufführungen; zwei Jahre später kehrte er nach Berlin zurück, um seine ersten Vorstellungen an der Staatsoper zu dirigieren. An der Kölner Oper setzte er die innovative Linie von Günter Wand erfolgreich fort, u. a. mit Hartmanns Simplicius Simplicissimus und Brittens Lucretia. 1953 wurde er von Heinz Tietjen als Erster Kapellmeister an die Städtische Oper Berlin berufen.
Neben zahlreichen Opern-Querschnitten ist Kraus vor allem mit Rundfunk-Aufnahmen dokumentiert; zu den bekanntesten Produktionen unter seiner Leitung gehören Parsifal mit Aldenhoff und Mödl (NDWR Köln 1949), Lohengrin mit Anders und Eipperle (dto. 1951), Elektra mit Varnay, Fischer und Rysanek (WDR 1953) und Tosca mit Rysanek, Hopf und Metternich (BR 1953). Auch wenn das Orchester aufgrund der sehr sängerfreundlichen Klangregie in der vorliegenden Aufnahme oft ins Abseits gerät, ist doch die besondere Lesart des Dirigenten deutlich zu hören: „Immer auf der Suche nach Melos und Legato“ könnte man sie beschreiben. Durch einen solchen Ansatz mögen zwar harte Akzente geglättet werden, doch andererseits zwingt das „understatement“ der orchestralen Klangrede den Zuhörer zu höchster Konzentration. Und ist es letztlich nicht befriedigender, die Subtilitäten von Janaceks Klangsprache durch konzentriertes Hören zu entdecken, als durch permanente Fingerzeige des Dirigenten?
Thomas Voigt (C) 2005, veröffentlicht in: