
Beruf und Privatleben waren bei ihr strikt getrennt: Auf der Bühne war sie die Diva, strahlend schön und unnahbar. Privat lebte sie über 60 Jahre mit Ehemann und Tochter in ihrem Schloß, total abgeschottet von der Außenwelt. Nur einmal, vor ihrem 90. Geburtstag, durfte ein Filmteam sie besuchen. Thomas Voigt erinnert sich an seine Begegnungen mit Lisa Della, die am 10. Dezember 2012 im Alter von 93 Jahren verstarb.
Wenn sie im zweiten Akt von Arabella im Ballkleid auftrat, ging eine Welle durchs Publikum: Der kollektive Griff zum Fernglas, um diese bildschöne Frau aus der Nähe zu sehen. Für Anneliese Rothenberger, ihre ständige Partnerin in Arabella, war Lisa Della Casa die „Liz Taylor der Oper“, für viele Opernbesucher bleibt sie schlichtweg die „Arabellissima“. „Wir alle waren verliebt in sie“, schwärmte Strauss-Enkel Christian noch Jahrzehnte später. Auch wer sie „nur“ von Aufnahmen kennt, von der Fernseh-Aufzeichnung aus dem Prinzregententheater in München oder von diversen Mitschnitten, kann sich die kapriziöse Figur von Strauss/Hofmannsthal kaum mehr anders vorstellen. So sehr eins sind Sängerin und darzustellende Figur, dass man sich ins Gedächtnis rufen muss, was es neben dieser Arabellissima noch alles von Lisa Della Casa zu hören und zu sehen gibt: eine Ariadne, die die heikle Phrase „Ein Schönes war“ mit scheinbar endlosem Atem singt, eine Capriccio-Gräfin aus dem Bilderbuch, eine jugendlich-hitzige (wenn auch vokal leicht gefährdete) Salome und sogar eine Chrysothemis: In der Salzburger High-Voltage-Elektra unter Dimitri Mitropoulos ist Lisa Della Casa der lyrische Gegenpol zur ekstatischen Inge Borkh in der Titelrolle.
Ein besonderes Kapitel in ihrer Vita ist Der Rosenkavalier. Wahrscheinlich ist sie die einzige Sopranistin von Weltrang, die in dieser Oper vier Rollen gesungen hat: Annina, Sophie, Octavian und Marschallin. Drum gibt es von Della Casa derzeit sieben Rosenkavaliere auf CD, oft in spannenden Konstellationen mit berühmten Kolleginnen und Konkurrentinnen.
Die Kombination von instrumentaler Stimmführung und expressiver Diktion kommt auch Mozart zugute: Donna Anna und Elvira, Figaro-Gräfin, Fiordiligi und Pamina haben bei ihr mehr Fleisch und Blut als man es heute von der Aufführungstradition jener Jahre erwarten würde. Und wenn sie in Wagners Meistersinger ihr „O Sachs, mein Freund!“ herausjubelt, kann man sich das Happy-end der Oper auch anders vorstellen… Nach wie vor gefällt mir ihre Tosca, im Electrola-Querschnitt von 1959 mit Rudolf Schock und Josef Metternich; deutsch gesungen, wie damals noch üblich.
Dass sie Schweizerin war und Della Casa ihr echter Name, kann man in jedem Musiklexikon nachlesen. Sie kam in Burgdorf bei Bern zur Welt, die Familie des Vaters stammte aus dem Tessin, die der Mutter aus München.
Jene Tosca war meine erste Begegnung mit der Stimme. Gesehen habe sie erstmals in Guido Baumanns Sendung Schöne Stimmen. Dass dies ihr letzter Fernseh-Auftritt sein sollte, konnte damals niemand ahnen. Ihr Rückzug von der Bühne, nach einer Arabella an der Wiener Staatsoper am 25. Oktober 1973, kam für die meisten völlig überraschend. Nur Wenige wussten, was sie in den letzten Jahren ihrer Karriere durchgemacht hatte. 1970 war bei ihrer Tochter Vesna ein Aneurysma festgestellt worden. Bei der Operation gab es Komplikationen, die zur halbseitigen Lähmung der 19jährigen führten. Um Vesna nicht das Gefühl zu geben, ein ständiges Sorgenkind zu sein, übte Lisa ihren Beruf weiterhin aus, freilich unter größerem Druck und in ständiger Anspannung. Einige unschöne Erfahrungen im Opernbetrieb kamen hinzu, und so sagte sie der Musikwelt drei Jahre später Adieu, zog sich zurück in ihr Schloß am Bodensee. Und dabei blieb es: Kein Comeback, keine Meisterklassen, keine Talkshows, keine Interviews.
„Sie können gerne zum Kaffee vorbei kommen“, sagte Dragan Debeljevic am Telefon, „aber es gibt kein Interview!“. Das war 15 Jahren nach ihrem Farewell, im Frühjahr 1989. So kam es zu meinem ersten Besuch auf Schloß Gottlieben. Vater, Mutter und Tochter saßen in einem gemütlichen Seitenzimmer, erzählten von alten Zeiten und spielten Highlights von Della Casas Auftritten in amerikanischen Fernsehshows: Tosca-Szenen mit Franco Corelli, Puccini-Duette mit Richard Tucker, das Faust-Finale mit Nicolai Gedda und Cesare Siepi.
Nach diesem Besuch haben wir noch einige Male telefoniert, meist wenn ich Hintergrundinformationen brauchte, z. B. zur Rosenkavalier-Affaire bei der Eröffnung des Neuen Festspielhauses in Salzburg. Bei der Premiere sang Della Casa noch die Marschallin, für die Filmproduktion, die wenige Wochen später entstand, holte man Elisabeth Schwarzkopf. Tief getroffen lehnte Della Casa alle Versöhnungsangebote ab; sie hat danach nie wieder in Salzburg gesungen.
Dragan Debeljevic ist ein guter Erzähler und Schreiber. Sein Buch Ein Leben mit Lisa Della Casa ist erfrischend direkt und im Gegensatz zu den meisten Sänger-Biographien wohltuend uneitel. Außerdem verfügt er über ein phänomenales Gedächtnis – was sich als unschätzbare Hilfe erwies, als Lisa Della Casa schließlich bereit war, vor laufender Kamera zu sprechen. Das war im November 2007, ihr erstes Interview nach 34 Jahren Funkstille. Nach unserer TV-Doku über Fritz Wunderlich hatten der BR und das Schweizer Fernsehen bei Barbara und Wolfgang Wunderlich wegen eines TV-Portraits von Lisa Della Casa angefragt.
Die Initiative zu diesem Projekt kam von Monika Faltermeier, einer Freundin der Familie. Sie hatte es von langer Hand vorbereitet und rares TV-Material organisiert, von dem ich das Meiste nur vom Hörensagen kannte, darunter ein BBC-Portrait mit Interview und sechs Musik-Nummern, das Finale der Münchner Salome, Auszüge von der Generalprobe des Salzburger Rosenkavalier mit Sena Jurinac und Hilde Güden, das Otello-Duett mit Wolfgang Windgassen und –zig Fernseh-Auftritte, von Einer wird gewinnen bis zum Blauen Bock.
Die Wunderlichs und ich waren Feuer und Flamme für diesen Film, aber wir mussten uns auf eine besondere Situation einstellen: Lisa hatte im Alter von 80 Jahren eine schwere Enzephalitis erlitten, die nicht nur ihr Erinnerungsvermögen, sondern auch ihr emotionales Empfinden beeinträchtigt hatte. Je nach Tagesverfassung konnte sie zugänglich oder sehr „schwierig“ sein. Bei unserem ersten Besuch hatten wir kein Glück, beim zweiten Anlauf lief alles prima: Es ging ihr sehr gut, sie konnte sich wieder an Vieles erinnern. Doch blieb Dragan der hauptsächliche Erzähler, er war quasi ihr ausgelagertes Gedächtnis. Außerdem war uns ziemlich schnell klar, dass dies kein Portrait einer Sängerin werden würde, sondern ein Film über drei Menschen, die das Leben zusammengeschmiedet hatte. Seit Jahrzehnten waren Vater, Mutter und Kind unzertrennlich, keiner konnte ohne die beiden anderen sein.
Und so gab es bei den Dreharbeiten immer wieder Momente, die einem sehr nahe gingen. Zum Beispiel wenn Dragan erzählte, was Vesna nach ihrer Operation ihrer Mutter ans Herz legte: „Bitte mache Dir keine Sorgen und gehe singen. Je besser du singst, desto schneller werde ich gesund.“
Der Tag, an dem wir die Außendrehs machten, bot eine wahrhaft filmische Kulisse: Bodensee und Schloß im Nebel, die riesigen Buxbäume vor dem alten Gemäuer, Lisa im blauen Pullover auf dem Balkon – die ganze Szene wirkte wie die optische Umsetzung der letzten Takte der Vier letzten Lieder von Richard Strauss, die durch Della Casas Aufnahme weltweit bekannt wurden.
Der dokumentarische Teil des Filmes war ein einziger Glücksfall. Außer den erwähnten TV-Raritäten waren noch die beiden Spielfilme erhalten, die Lisa 1938/39 gedreht hatte, beide mit Paul Hubschmid, und sogar ihr allererstes Filmdokument: Wallensteins Lager, in der Freiluft-Inszenierung ihres Vaters. Da sieht man die 12jährige als Zigeunermädchen. Von Hauptberuf war ihr Vater Augenarzt, doch seine große Leidenschaft war das Theater. Und so stand Lisa oft mit ihm gemeinsam auf der Bühne. Er war es auch, der sie dazu überredete, die Laufbahn der Sängerin einzuschlagen. Der Rest ist Operngeschichte: Debüt 1941 in Solothurn-Biel als Butterfly, 1943 Wechsel zur Oper Zürich, dort Mädchen für alles, 1947 erste Auftritte in Salzburg und an der Wiener Staatsoper, 1952 Debüt an der Mailänder Scala, 1953 an der Met.
Ein Kapitel für sich sind die Fernseh-Auftritte der Della Casa. Ich wüsste keine Opern-Diva, die in jenen Jahren so oft in deutschen TV-Shows zu sehen war, bei Hans-Joachim Kulenkampff, Peter Frankenfeld und Peter Alexander genauso wie bei Heinz Schenk, Robert Lembke, Vico Torriani und Hans Rosenthal. Aus diesem Material hätte man einen Extra-Film bauen können – wenn man dafür das entsprechende Produktionsbudget gehabt hätte. Nun ist der Erwerb der Rechte von Archivmaterial leider oft wesentlich kostspieliger als ein Neu-Dreh. Aus diesem Grund mussten wir schweren Herzens auf einige Highlights der BBC-Dokumentation verzichten. Und was die Verwendung des 20-Sekunden-Schnipsels aus Dalli Dalli! gekostet hat, darf man niemandem erzählen, auch nicht höchst diskreten Fono-Forum-Lesern. Dies als Antwort auf die Frage, warum es besagte Raritäten und unseren Film noch nicht auf DVD gibt. Aber man soll die Hoffnung nicht aufgeben. Das gilt auch vor allem für die Münchner Arabella: Das Strauss-Jahr 2014 wäre doch ein guter Anlass, diese legendäre Produktion endlich einmal legal zu veröffentlichen, zumal die Wiener Staatsoper zum Auftakt des Jahres eine Della-Casa-Ausstellung plant. Jedenfalls bin ich sicher, dass Lisa Della Casa eines Tages auf DVD und Bluray so präsent ist, wie sie es aufgrund ihres künstlerischen Ranges verdient hat. Immerhin war sie nicht nur eine der bedeutendsten Operndiven ihrer Zeit, sondern eine der schönsten Sängerinnen seit Erfindung des Tonfilms.
Wie viele schöne Menschen wurde auch sie oft auf ihr Aussehen reduziert. Um so größeres Gewicht hat das Kompliment eines berühmten Kollegen, der sie in einer Rundfunk-Übertragung von Lohengrin hörte. Noch während der Aufführung telegraphierte Lauritz Melchior an Lisa Della Casa: ELSA, ICH LIEBE DICH!
CD-Tipps
Mozart, Le Nozze di Figaro (Contessa)
Siepi, Güden, Poell, Danco u. a., Wiener Philharmoniker, Kleiber; Decca 1955 (3 CDs)
Mozart, Don Giovanni (Elvira)
London, Grümmer, Simoneau, Corena, Streich, Berry, Frick u. a., Wiener Philharmoniker, Mitropoulos; Salzburg 1956; Sony (3 CDs)
Mozart, Die Zauberflöte (Pamina)
Köth, Böhme, Simoneau, Berry u. a., Wiener Philharmoniker, Szell; Salzburg 1959; Orfeo (2 CDs)
Puccini, Tosca (Titelpartie, Querschnitt in dt. Sprache)
Schock, Metternich u. a., Berliner Symphoniker, Klobucar; Electrola 1959; EMI (CD)
Strauss, Arabella (Titelpartie)
– Güden, London, Edelmann, Malaniuk, Kmentt u. a., Wiener Philharmoniker. Solti;Decca 1957 (2 CDs)
– Rothenberger, Fischer-Dieskau, Edelmann, Malaniuk, Melchert u. a, Wiener Philharmoniker, Keilberth: Salzburg 1958; Orfeo (3 CDs + Vier letzte Lieder; Böhm)
Strauss, Ariadne auf Naxos (Titelpartie)
Seefried, Güden, Schock, Poell, Neugebauer u. a., Wiener Philharmoniker, Böhm; Salzburg 1954; DG (2 CDs)
Strauss, Elektra (Chrysothemis)
Borkh, Madeira, Böhme, Lorenz, Horne u. a., Wiener Philharmoniker, Mitropoulos; Salzburg 1957; Orfeo (2 CDs)
Strauss, Der Rosenkavlier (Marschallin)
Stevens, Güden, Edelmann, Herbert u. a., Metropolitan Opera, Kempe; New York 1956; Walhall (3 CDs)
Strauss, Vier letzte Lieder, Auszüge aus Opern
Wiener Philharmoniker, Böhm; Decca 1953/54 (CD)
Wagner, Die Meistersinger von Nürnberg (Eva)
Edelmann, Pflanzl, Hopf, Unger, Malaniuk u. a., Bayreuther Festspiele, Knappertsbusch; Bayreuth 1952; Melodram (4 CDs)
Lisa Della Casa
Szenen aus Don Giovanni, Idomeneo, Die Meistersinger, Dantons Tod, Capriccio and Arabella; Wien 1955-71; Orfeo (CD)
Lisa Della Casa
Lieder von Schubert, Brahms, Schoeck, Ravel, Strauss und Wolf; Salzburg 1957; Orfeo (CD)
(C) Thomas Voigt 2012, veröffentlicht in: FonoForum 2.2013