Welche Aufnahme von Wagners Tannhäuser?
Wagners oft zitierter Spruch, er sei der Welt noch einen Tannhäuser schuldig, sagt schon alles: weder gibt es eine Fassung des Werkes, mit der man restlos glücklich werden könnte, noch eine Aufnahme. Ein Tannhäuser für die einsame Insel? Das wird schwierig.
Viel einfacher ist es, aus dem verfügbaren Reservoir die Highlights zusammenzustellen. Für die Ouvertüre würde ich die sensationelle Film-Aufnahme unter Fritz Busch wählen, für die Venus-Tannhäuser-Szene die Decca-Produktion mit Christa Ludwig und René Kollo, für das Finale im ersten Akt die Konwitschny-Aufnahme, schon wegen Fritz Wunderlich in der kleinen Partie des Walther: wenn er singt, geht im Ensemble die Sonne auf. Bei der Hallen-Arie schwanke ich zwischen Helga Dernesch (welche Klangfülle und Wärme!) und Anja Silja: Was die damals 22jährige mit ihrer Kindertrompete anstellt, klingt nicht immer schön; aber man spürt bei ihr, dass Elisabeth eine Seelenverwandte des Tannhäuser ist, maßlos in ihrem Enthusiasmus und Idealismus. Das anschließende Duett habe ich selten so eindrucksvoll gehört wie in der Studio-Aufnahme von 1942 mit dem hochexpressiven Max Lorenz und der wunderbar phrasierenden Maria Reining. Beim Einzug der Gäste (wie auch beim Pilgerchor im 3. Akt) geben die Bayreuther Kräfte unter Wilhelm Pitz und Wolfgang Sawallisch (1962) nach wie vor den Ton an.
Wenn sich Elisabeth beim Sängerstreit schützend vor Tannhäuser wirft, bleibt die Bayreuther Aufnahme von 1964 das Maß aller Dinge: Leonie Rysaneks „Haltet ein!“ dringt durch das Stimmgewirr der aggressiven Wartburg-Gesellschaft wie ein flammendes Schwert. Und keiner hat die Zerknirschung Tannhäusers und das gefürchtete „Erbarm dich mein!“ so intensiv gestaltet wie Wolfgang Windgassen. Beim Finale des zweiten Aktes (ab „Ein furchtbares Verbrechen ward begannen“) ist Soltis Studioproduktion meine Test-Aufnahme; so aufregend klingt die Spannungskurve nirgendwo sonst. Dass diese so zentrale Szene in vielen Aufnahmen und Aufführungen gekürzt wurde (meist um die Wiederholung des Hauptthemas mit dem „Cantus firmus“ der Elisabeth) ist eine Anti-Klimax wie sie unbefriedigender nicht sein kann; schon aus diesem Grunde scheiden etliche „Gesamt“-Aufnahmen trotz bedeutender Einzel-Leistungen als Insel-CD aus.
Elisabeths Gebet ist ein Härtetest für alle Sopranistinnen, nicht nur, weil Intonationstrübungen gnadenlos auffallen. Die schöne und starke Seele, die sich für den Geliebten opfert – was wir heute mit einigem Befremden zur Kenntnis nehmen, wer könnte das derart glaubhaft zum Klingen bringen, dass man gebannt und gerührt zuhört? Mein Schlüssel-Erlebnis war Elisabeth Grümmer. Bei Wolframs Lied an den Abendstern fällt die Entscheidung extrem schwer: Von Herbert Jansen (1930) über Bernd Weikl (1978) und Roman Trekel (2003) bis Christian Gerhaher (2011) gibt es etliche Aufnahmen, die diesen poetischen Akt der Trieb-Sublimierung trefflich zum Ausdruck bringen. Der junge Fischer-Dieskau, George London und Eberhard Wächter sind für meine Begriffe die eindringlichsten Interpreten.
Bleibt das Anspruchsvollste vom Ganzen, Tannhäusers Rom-Erzählung. Setzt man die stimmliche-musikalische und gesangstechnische Bewältigung als ausschlaggebendes Kriterium an, ist Lauritz Melchior nicht nur der Erste, sondern auch der Einzige auf Platten. Niemand hat das so mühelos und musikalisch so differenziert gesungen. In den überlieferten Mitschnitten von der Met – und da war Melchior immerhin zwischen 51 und 54 Jahre alt – klingt er so, als könnte er die ganze Oper noch mal von vorn singen. Und wahrscheinlich konnte er das auch. Aber: Waren es diese Ausnahme-Qualitäten, die Wagner an Ludwig Schnorr von Carolsfeld, seinem Tristan und Tannhäuser in München, so sehr schätzte? In seiner Hommage auf den Sänger schreibt Wagner nichts über die Stimme und die Technik des Tenors, sondern rühmt die „unbeschreibliche wundervolle Darstellung“, „das Dämonische in Wonne und Schmerz“, „das leidenschaftliche Rasen der Zerknirschung“, den „erschütternden und dadurch heftig rührenden Ausdruck“ – und bestätigt damit letztlich, was Robert Schumann 1845 an Felix von Mendelssohn nach dem Besuch einer „Tannhäuser“-Vorstellung geschrieben hatte: „Ich muss manches zurücknehmen, was ich Ihnen nach dem Lesen der Partitur darüber schrieb, von der Bühne her stellt sich alles ganz anders dar. Ich bin von Vielem ganz ergriffen.“
Dieses Ergriffen-Sein, so geht aus den Schriften Wagners immer wieder hervor, war sein erstes Kriterium bei der Beurteilung von Sänger-Leistungen. Setzt man das als Maßstab an, rückt ein Tannhäuser-Darsteller in den Focus, der stimmlich und technisch an Melchior nicht heranreichte: Max Lorenz. Von seinem Tannhäuser, dokumentiert in Studio-Aufnahmen von 1942, waren Zuhörer und Kollegen gleichermaßen erschüttert, vielleicht gerade deshalb, weil er mit maßloser Leidenschaft kompensierte, was ihm ein Melchior voraus hatte. Kunst durch Kompensation – das ist das zentrales Leit-Motiv bei der Durchsicht aller „Tannhäuser“-Aufnahmen. Bestes Beispiel im Neu-Bayreuth Wieland Wagners: Wolfgang Windgassen. Vom Timbre her weit weniger attraktiv als Lorenz und stimmlich eher lirico-spinto als dramatisch, wird er durch darstellerische Intelligenz und Eloquenz völlig eins mit der Figur. Ludwig Suthaus, Furtwänglers Tristan, kompensiert seine knappe Höhe durch Musikalität und Farbenreichtum, Ramon Vinay macht mit schierer Energie und Leidenschaft wett, was ihm an vokaler Flexibilität fehlt. Wie Vinay bringt auch Placido Domingo seine Erfahrungen mit Verdis Otello in die Tannhäuser-Partie ein: er singt bewundernswert, doch mit einem Deutsch, „das Wagner spanisch vorgekommen wäre“ (Jürgen Kesting).
Den Gegenpol zu Domingo markiert René Kollo. In der Solti-Aufnahme von 1970 zeigt er sich als Meister der Kompensation vokaler Defizite, und selbst 24 Jahre später, in der problematischen Münchner Inszenierung von David Alden, hat er noch starke Momente als Darsteller, obwohl er seine Stimme rücksichtslos ins Schlingern treibt. Eine glückliche Wiederentdeckung war für mich Spas Wenkoff in Götz Friedrichs Bayreuther „Skandal-Inszenierung“ von 1978: nach ihm wirken Richard Cassilly (Met 1982) und Richard Versalle (Bayreuth 1989) völlig unbedeutend. Quasi auf den Spuren Windgassens bewegt sich Peter Seiffert: Was ihm an heldischem Stimmklang fehlt, kompensiert er durch treffliche Artikulation; gesanglich ist er in Barenboims Studio-Aufnahme am stärksten, darstellerisch in Carsens Inszenierung. Die stärkste Einzel-Aufnahme der Romerzählung seit langem findet man auf dem Wagner-Album von Jonas Kaufmann (Decca 2012); das lässt für die Zukunft einiges erhoffen.
Zurück zur Eingangsfrage: Welche von all den Gesamtaufnahmen ist guten Gewissens zu empfehlen, klanglich wie auch künstlerisch? Und vorab: Welche Fassung? Mir ist die Dresdner Version wegen ihrer stilistischen Einheitlichkeit durchaus lieber. Die Pariser Version der Venus-Szene ist für sich genommen ein Gewinn, passt aber aufgrund der „Tristan-Chromatik“ schlecht zum Rest der Oper. Dass einem die Orgasmen des Bacchanals orchestral wie choreographisch schnell auf die Nerven gehen können, war vielleicht auch Intention des Komponisten: um so mehr versteht man Tannhäusers Überdruss. Wie auch immer – wenn es die Pariser Fassung sein soll, steht Soltis klangprächtige Einspielung nach wie vor an erster Stelle. Mit Domingo und Agnes Baltsa wirkt Sinopolis Aufnahme zwar in großen Teilen unidiomatischer als die Einspielung unter Daniel Barenboim, deren Zugpferde Seifert, René Pape und Waltraud Meiter sind. Doch hat Sinopoli neben der Elisabeth von Cheryl Studer vor allem eines anzubieten: eine dezidierte Lesart, die der Aufnahme unverwechselbares Profil gibt.
Ähnlich überschaubar ist der Bestand bei den Aufnahmen der Dresdner Fassung. Die Berliner Ost-West-Produktion von 1960 unter Franz Konwitschny könnte die Version für die einsame Insel sein, wenn statt Hans Hopf Wolfgang Windgassen sänge. Die Konstellation Grümmer, Fischer-Dieskau, Frick und Wunderlich kommt dem ideal sehr nahe, und auch klanglich hat die Aufnahme das letzte halbe Jahrhundert gut überstanden. Ergänzend sollte man auf jeden Fall den aufnahmetechnisch prächtigen Bayreuther Mitschnitt von 1962 mit Windgassen, Silja und Wächter gehört haben, auch wenn Wolfgang Sawallisch am Pult weniger Hitze und Leidenschaft aufkommen lässt als André Cluytens in den Bayreuther Sommern davor und danach. Von den späteren Aufnahmen der Dresdner Fassung ziehe ich die konzertante Aufführung unter Marek Janowski den Versionen unter Otto Gerdes (DG 1968) und Bernard Haitink (EMI 1986) vor – nicht nur wegen der audiophilen Klangqualität, sondern auch wegen Nina Stemme (Elisabeth), Marina Prudenskaya (Venus) und Christian Gerhaher (Wolfram). Die Titelrolle ist mit Robert Dean Smith unterbesetzt: die maßlose Leidenschaft, die Wagner als zentrales Charakteristikum der Figur beschrieb, ist nicht annährend zu hören, weder in der Freude noch im Schmerz.
Am größten ist die Qual der Wahl bei den Versionen auf DVD: Beginnt man mit der konzeptionell und optisch attraktiven Carsen-Inszenierung, mit Tannhäuser als verlottertem Künstler, der die stylische Vernissage-Gesellschaft aufmischt? Oder mit Lehnhoffs Version aus Baden-Baden, die ebenfalls starkes Musiktheater bietet? Oder mit der Götz-Friedrich-Inszenierung, die seinerzeit in Bayreuth noch mehr die Gemüter erhitzte als der „Jahrhundert-Ring“ von Chereau & Peduzzi? Von Wenkoff als Tannhäuser war bereits die Rede, nicht minder imponierend ist Gwyneth Jones, die in der Doppelrolle Venus/Elisabeth „Bayreuth-willig die Hüllen fallen ließ“ (Hörzu). Danach Wolfgang Wagners spätere Bayreuth-Inszenierung anzusehen, wirkt so als würde man in die Fernseh-Kulissen der 1960er Jahre katapultiert: Regie, Bühnenbild, Kostüme und Perücken strahlen eine solche Provinzialität aus, dass selbst Brian Large, der Meister der TV-Regie, nur wenig retten kann. Ein vergleichbares Ärgernis ist die Zürcher Aufführung von 2003, deren unmögliche Bildregie das Ganze disqualifiziert: Sobald Seiffert auf der Bühne ist, fährt die Kamera gnadenlos auf sein schweißgebadetes Gesicht und verharrt dort bis zum bitteren Ende, egal, wer sonst noch singt. David Aldens Münchner Inszenierung hat mir beim Wiedersehen nach fast 20 Jahren kaum besser gefallen als bei der Premiere; doch gewinnt in der Bildregie von Brian Large Manches an Bedeutung, was im Zuschauerraum als purer Aktionismus erschien.
Von all den Rundfunk-Aufnahmen und Mitschnitten, die aufgrund ihrer beschränkten Tonqualität eher für Sammler in Frage kommen dürften, möchte ich folgende empfehlen: Die Met-Broadcasts von 1941 (Melchior, Flagstad / Leinsdorf) und 1955 (Vinay, Varnay, London / Kempe) sowie die HR-Produktion von 1950 – nicht wegen Günther Treptow, der wie gewohnt heftig knödelt, sondern wegen Trude Eipperle (Elisabeth) und dem 62jährigen Heinrich Schlusnus (Wolfram). Hört man danach den 24jährigen Fischer-Dieskau in der Berliner Aufführung mit Suthaus (1949), wird der Unterschied zwischen alter und neuer Schule evident. Aber ich möchte keine der beiden missen. Dass man sich nicht auf alte Höreindrücke verlassen kann, zeigt das Beispiel Hans Beirer. In der bilingualen Aufführung in Neapel mit der wunderbaren Renata Tebaldi („Indietro la! Giudice non siete!“) scheint er, so weit man das aufgrund des unterirdischen Klangbildes beurteilen kann, in guter Form gewesen zu sein. Doch in Karajans Wiener Aufführung hatte ich ihn wesentlich besser in Erinnerung, das Wiederhören war ernüchternd. Nun war er damals für Windgassen eingesprungen und derart gestresst, dass er sich beim Sängerkrieg heftig versang. Auch klangtechnisch ist der ORF-Mitschnitt kein Ruhmesblatt, die Streicherlastigkeit klingt stellenweise grotesk. Dennoch kommt der Aufführung von 1963 besondere Bedeutung zu: Sie ist Karajans einzige Aufnahme des Werkes. Auch der Maestro, der in der Oper hauptsächlich Wagner dirigierte, ist der Welt einen „Tannhäuser“ schuldig geblieben.
CD- und DVD-Tipps
Bayreuther Live-Aufnahmen
Wolfgang Windgassen, Gré Brouwenstijn, Herta Wilfert, Dietrich Fischer-Dieskau, Josef Greindl u. a.; Chor und Orchester der Bayreuther Festspiele, André Cluytens (1955, B1); Orfeo 3 CD C 643 043 D
Wolfgang Windgassen, Anja Silja, Grace Bumbry, Eberhard Wächter, Josef Greindl u. a., Chor und Orchester der Bayreuther Festspiele, Wolfgang Sawallisch (1962, B2); Decca 33 CD 478 0279 (Wagner, The Great Operas from the Bayreuth Festival; Einzel-Ausgabe derzeit nur antiquarisch erhältlich)
Studio-Aufnahmen
Hans Hopf, Elisabeth Grümmer, Marianne Schech, Dietrich Fischer-Dieskau, Gottlob Frick, Fritz Wunderlich u. .a, Chor und Orchester der Berliner Staatsoper, Franz Konwitschny (1960, D); EMI 3 CD 0965502
René Kollo, Helga Dernesch, Christa Ludwig, Victor Braun, Hans Sotin u. a., Chor der Wiener Staatsoper, Wiener Philharmoniker, Georg Solti (1970, F); Decca 3 CD 470 8102 9
Audiophile Aufnahme
Robert Dean Smith, Nina Stemme, Marina Prudenskaya, Christian Gerhaher, Albert Dohmen u. a., Rundfunkchor Berlin, Rundfunk-Sinfonieorchester Berlin, Marek Janowski (live, 2012, D); Pentatone 3 SACD PTC 5186 405;
Aufführungen auf DVD
Peter Seiffert, Petra Maria Schnitzer, Beatrice Uria-Monzon, Markus Eiche, Günther Groissböck u. a., Chor und Orchester des Gran Teatre del Liceu, Sebastian Weigle; Regie: Robert Carsen (2008, F); c.major / Unitel 2 DVD 709 308
veröffentlicht in: FonoForum 5.2013