Zur Aufführungsgeschichte der Frau ohne Schatten

Warum brauchte Die Frau ohne Schatten wesentlich länger als Elektra, Der Rosenkavalier und Ariadne auf Naxos, um sich international in den Spielplänen zu behaupten? Warum wurde sie in den ersten Jahrzehnten ihrer Existenz selbst von Strauss-Fans eher geschätzt als geliebt?
Wer diesen Fragen nachgeht, stößt immer wieder auf die gleichen (Vor-) Urteile: Das Stück sei dramaturgisch zu sehr konstruiert, in seiner komplizierten Symbolik zu schwer verständlich und außerdem in jeder Hinsicht überfrachtet – musikalisch, literarisch und philosophisch. Außerdem sei es für den „normalen“ Opernbetrieb einfach zu anspruchsvoll, sowohl in der Besetzung der fünf Hauptpartien wie auch in der szenischen Realisierung.
Das Vorurteil „zu anspruchsvoll“ lässt sich mit Blick auf Wagners Musikdramen leicht entkräften: Tristan, Meistersinger und der Ring sind im Theateralltag sicherlich nicht einfacher zu realisieren als Die Frau ohne Schatten.
Die angeblich so „komplizierte Symbolik“ erweist sich als relativ einfach, wenn man das Ganze unter dem Aspekt der humanistischen Märchenoper sieht und sich an eine zentrale Stelle im Briefwechsel von Strauss/Hofmannsthal orientiert: „Es ist hier eine ganze Welt gegeben“, schreibt Hofmannsthal an Strauss, „doch umschreibt ein Verspaar von Goethe den innersten Gehalt davon:
Von dem Gesetz, das alle Wesen bindet,
befreit der Mensch sich, der sich überwindet.
Der entscheidende Moment im Stück ist das „Ich will nicht!“ der Kaiserin im dritten Akt: Sie verzichtet auf ihr eigenes Glück, weil sie es nicht mit dem Unglück des Färberpaares erkaufen will. Sie überwindet sich selbst und wird dadurch Mensch. Dies ist die zentrale „Aussage“ des Stückes, klar und deutlich, durch keinerlei „Symbolik“ vernebelt.
Das Problem der „Überfrachtung“ ist indes nicht immer von der Hand zu weisen: Die Frau ohne Schatten enthält einige Stellen, bei denen der musikalische und dichterische Aufwand nicht im Verhältnis zur dramatischen Situation steht: Vor allem im zweiten Akt hat man öfters den Eindruck, dass es Strauss und Hofmannsthal nicht gelungen ist, das Geschehen auf den Punkt zu bringen; die Worte könnten knapper, die Klangrede präziser und transparenter sein. Da vermisst man mitunter den „Minimalismus“ der Ariadne.
Womit wir beim dramaturgischen Konzept wären. Dem alten Vorurteil des „zu sehr Konstruierten“ lässt sich nur wenig entgegen halten, zumal wenn man die achtjährige Entstehungsgeschichte des Werkes verfolgt.
Nachfolgerin der Zauberflöte?
Hofmannsthals erstes Konzept zur Frau ohne Schatten datiert von 1911. Ausgehend von Goethes Unterhaltung deutscher Ausgewandeter (1795) schwebt dem Dichter ein humanistisches Märchen vor, das er im Briefwechsel mit Richard Strauss später öfters mit Mozarts Zauberflöte vergleicht. Analog zur Mozart-Oper erfindet er zwei Paare, die – durch diverse Prüfungen geläutert – eine höhere Stufe der Menschlichkeit erreichen: Kaiser und Kaiserin als „hohes“, Färber und Färberin als „volkstümliches“ Paar. Als fünfte Hauptpartie kommt die Figur der Amme hinzu, die deutliche Parallelen zum Mephisto in Goethes Faust enthält, bis hin zum Zitat „Her zu mir!“ am Ende des zweiten Aktes.
Strauss ist von der Idee begeistert und geht sogleich ans Komponieren, merkt jedoch bei aller Inspiration durch den Text, dass dem Ganzen etwas Konstruiertes anhaftet. So schreibt er am 28. Juni 1916 an Hofmannsthal: „Figuren wie Kaiser und Kaiserin nebst Amme sind nicht mit so roten Blutkörperchen zu erfüllen wie eine Marschallin, ein Oktavian, ein Ochs. Da kann ich mein Hirn anstrengen, wie ich will, und ich plage mich redlich … aber das Herz ist nur zur Hälfte dabei, und sobald der Kopf die größere Hälfte der Arbeit leisten muß, wird ein Hauch akademischer Kälte darin wehen (…), den kein Blasebalg zu wirklichem Feuer anblasen wird…“
Als erfahrener Theaterpraktiker spürt Strauss auch, dass Die Frau ohne Schatten dramaturgisch keineswegs so innovativ ist wie etwa die doppelbödige Ariadne, und so schreibt er im gleichen Brief: „…wir wollen den Entschluß fassen, die Frau ohne Schatten sei die letzte romantische Oper.“
Das Stück wird für Strauss Lieblings- und Schmerzenskind zugleich. Er ringt mit Hofmannsthal um jedes Mittel, den „Hauch akademischer Kälte“ zu vertreiben. Anders als sonst kommt er mit der Komposition nur langsam voran. Er zweifelt, ändert, verwirft.
„Leidensweg über die deutschen Bühnen“
Im Frühjahr 1919 ist die Oper schließlich fertig, am 10. Oktober des Jahres erlebt sie ihre Uraufführung an der Wiener Staatsoper. Kaiserin und Färberin sind mit den beiden Rivalinnen des Hauses, Maria Jeritza und Lotte Lehmann, hochkarätig besetzt, den Färber Barak verkörpert Richard Mayr (zu jener Zeit Straussens Lieblingsdarsteller des Baron Ochs im Rosenkavalier). Am Pult steht Franz Schalk, Regie führt Hans Breuer (der Charaktertenor der Gustav-Mahler-Ära), die Ausstattung stammt von Alfred Roller. In seinen Erinnerungen spricht Strauss später von einer „sehr glanzvollen Aufführung in großartiger Besetzung“; doch danach sei die Oper in Wien „öfter abgesagt als gegeben“ worden, offenbar wegen der überdurch- schnittlich hohen Ansprüche an alle Beteiligten.
Schon zwölf Tage nach der Wiener Uraufführung kommt Die Frau ohne Schatten an der Semperoper in Dresden heraus, doch trotz der musikalischen Leitung von Fritz Reiner und der Kaiserin von Elisabeth Rethberg findet die Aufführung wenig Anklang, vor allem in szenischer Hinsicht. Erst recht überfordert sind kleinere Bühnen, die nicht über die Mittel der Opernhäuser in Wien und Dresden verfügen.
In seinen „Betrachtungen und Erinnerungen“ schreibt Strauss zwei Jahrzehnte später: „Nach dem ersten großen Erfolg trat die Oper einen Leidensweg über die deutschen Bühnen an. … Es war ein schwerer Fehler, dieses schwer zu besetzende und szenisch so anspruchsvolle Werk unmittelbar nach dem Krieg mittleren und kleineren Theatern anzuvertrauen. Als ich später nur einmal die Stuttgarter Nachkriegsausstattung („auf billig“) sah, begriff ich, dass das Werk nur wenig Erfolg haben konnte. Schließlich hat es sich aber doch durchgesetzt und besonders in der Wiener-Salzburger Aufführung (Krauss-Wallerstein) und zuletzt in München (Krauss-Hartmann-Sievert) tiefen Eindruck gemacht. Und gerade künstlerische Menschen halten es für mein bedeutendstes Werk.“
Dass es sich „durchgesetzt“ hat, kann man zu diesem Zeitpunkt noch nicht sagen. Zwar bringt Karl Böhm noch 1943, als neuer Direktor der Wiener Staatsoper, eine Neuinszenierung heraus, doch geht diese Produktion (mit Hilde Konetzni als Färberin und Elisabeth Höngen als Amme) wie so vieles andere in den Wirren des Zweiten Weltkriegs unter.
Beginn der Renaissance: München 1954
Den weltweiten Siegeszug der Frau ohne Schatten erlebt Strauss nicht mehr; der beginnt erst Mitte der 50er Jahre und ist zunächst zwei Männern zu danken, denen Strauss ein väterlicher Freund und Mentor war: Rudolf Hartmann und Karl Böhm. Hartmann, der das Werk schon 1939 während der „Ära Krauss“ in München inszenierte, bringt am 11. Juli 1954 eine Neuproduktion am Prinzregentheater heraus – in einer Besetzung, die von Presse und Publikum enthusiastisch gefeiert wird: Leonie Rysanek und Hans Hopf singen das Kaiserpaar, Marianne Schech und Josef Metternich das „irdische“ Paar und Lilian Benningsen die Amme. Obwohl klangtechnisch eher mittelprächtig, dokumentiert der Mitschnitt der Aufführung den Beginn der Frau ohne Schatten-Renaissance: Rudolf Kempe dirigiert mit großer Sensibilität, atmet mit seinen Sängern und schafft es immer wieder, den dichten (manchmal auch zu dicken) Orchesterapparat transparent zu machen.
Ganz in ihrem Element ist Leonie Rysanek als Kaiserin. Wie Flammenwerfer schießen ihre hohen Töne in den Zuschauerraum, und schon bei ihrer ersten Szene spürt man, warum die Sängerinnen vor ihr mit der Kaiserin nur einen Achtungserfolg hatten: Diese Partie braucht einfach eine Stimme mit raumgreifender, aufregender Höhe. Dass die Rysanek die extrem hohe Lage dreißig (!) Jahre lang bewältigen wird, ist fast schon ein anatomisches Wunder. Mit diesem Vorzug, vor allem aber mit ihrer hochemotionalen Darstellung, trägt sie entscheidend zur Renaissance der Frau ohne Schatten bei. Darstellerisch folgt sie genau dem, was Hugo von Hofmannsthal während der Entstehung des Werkes Richard Strauss ans Herz legte:
„Ich möchte Ihre ganze Aufmerksamkeit auf die Figur der Kaiserin lenken. Diese hat nicht viel Text und doch ist sie eigentlich die wichtigste Figur im Ganzen. Dies dürfen sie niemals übersehen. Um ihr Menschwerden dreht es sich, sie ist, nicht die andere, die Frau ohne Schatten. … Immer geht ein geistiges Licht von ihr aus, und die Punkte auf ihrem Wege zum Menschentum sind mit leuchtenden Feuern bezeichnet…“
Von Wien in die Welt: Böhms Pioniertat
Natürlich dringt der Erfolg der Münchner Frau ohne Schatten auch nach Wien. Karl Böhm, zum zweiten Mal zum Direktor der Staatsoper ernannt, verpflichtet das Team Hartmann/Preetorius und das Kaiserpaar Rysanek/Hopf für seinen Opern-Marathon zur Wiedereröffnung des Hauses im November 1955. Acht (!) Premieren hat Böhm innerhalb von drei Wochen angesetzt, vier davon dirigiert er selbst. Obwohl er mit diesem Pensum sich und seinem Ensemble eindeutig zu viel zumutet, wird Die Frau ohne Schatten einen Riesenerfolg. Neben Rysanek und Hopf bietet Böhm drei erstklassige Sängerdarsteller auf: Christl Goltz – seine Salome, Elektra und Wozzeck-Marie – als Färberin; Elisabeth Höngen (die er nach ihrer Lady Macbeth „die größte Tragödin der Welt“ nannte) als Amme; und schließlich, dem Beispiel der Uraufführung folgend, den damals führenden Sänger des Baron Ochs als Barak: Ludwig Weber. Was Böhm mit diesem Ensemble und den Wiener Philharmonikern leistet, ist eine Pionierarbeit die noch Jahrzehnte nachwirkt – dank der Aufnahme, die wenige Wochen nach der Premiere im Wiener Musikvereinssaal entsteht. Bis auf Paul Schöffler, der Ludwig Weber in der Rolle des Färbers ablöst, ist die Besetzung mit der der Aufführung identisch, und so bleibt von der Bühnenatmosphäre sehr viel erhalten.
Zugleich ist diese Frau ohne Schatten eine der allerersten Opern-Gesamtaufnahmen in Stereo, und die Produzenten der Aufnahme, Victor Olof und Peter Andry, tun ihr Bestes, um mit der neuen Aufnahmeapparatur der Decca den ebenso reichen wie komplizierten Orchesterpart so differenziert wie möglich wieder zu geben. Es gelingt ihnen so gut, dass die Produktion noch Jahrzehnte später nicht nur künstlerisch, sondern auch klangtechnisch als Referenz-Einspielung gilt. Eine ganze Generation von Hörern lernt mit dieser Aufnahme das Werk überhaupt erst kennen – und schätzen.
Karajans „Antwort“
Dass Böhm wenige Monate nach der Wiedereröffnung der Staatsoper sein Direktionszimmer für Herbert von Karajan räumen muss, gehört zu den finstersten Kapiteln der Wiener Operngeschichte. Zwar ergibt sich sehr bald eine friedliche Koexistenz beider Dirigenten, doch unter Karajan kommt es an der Staatsoper zu einschneidenden Veränderungen. Statt nationale Eigen-Art zu pflegen, setzt Karajan auf internationalen Glanz. Italienische Opern werden fortan in der Originalsprache gegeben, meist mit den Stars der Mailänder Scala. Die Frau ohne Schatten erlebt in Wien bis 1959 gerade mal 12 Aufführungen, dann verschwindet sie in der Versenkung.
Ein wesentlich längeres Leben ist Hartmanns zweiter Inszenierung in München beschieden: Ermutigt durch den Premierenerfolg in Wien wählt er Die Frau ohne Schatten auch zur Wiedereröffnung des Münchner Nationaltheaters im November 1963. Joseph Keilberth dirigiert, und die gänzlich neue Besetzung (Ingrid Bjoner, Jess Thomas, Inge Borkh, Dietrich Fischer-Dieskau, Martha Mödl, Hans Hotter) garantiert einen denkwürdigen Abend. Zum ersten Mal wird das Werk auch für das Fernsehen aufgezeichnet.
Wenige Monate später folgt aus Wien die „Antwort“: Am 11. Juni 1964, zum hundertsten Geburtstag von Richard Strauss, zeigt Karajan seine Version der Oper, in der Doppelfunktion Regisseur und Dirigent – und mit einer Besetzung, die der Münchner Produktion zumindest ebenbürtig ist. Nach sieben Jahren Amtszeit ist dies seine letzte Produktion als Direktor der Wiener Staatsoper. Bei der Premiere wird er gefeiert wie ein Fußballstar, mit Sprechchören wie „Ka-ra-jan soll blei-ben“. Auch die Presse ist ihm durchweg wohl gesonnen, selbst seine arg verstümmelte Fassung des Werkes wird kaum kritisiert. Nur Heinrich Kralik, der Grand Seigneur des Wiener Feuilletons, nimmt in seiner Premierenkritik kein Blatt vor den Mund:
„Bei einer so berauschenden Aufführung, wie sie jetzt in unserer Oper dargeboten wird, erscheinen die erheblichen Striche, die Karajan vorgenommen hat, kaum verständlich. … Wer mit dem Werk einigermaßen vertraut ist, dem tut es im Herzen weh, wichtige Stellen zu vermissen. Besonders empfindlich wirkt sich die musikalisch-dramaturgische Operation aus, die im zweiten Akt durch die Zusammenlegung des 3. und 5. Bildes vorgenommen wird. Eine überaus wichtige Situation geht dabei verloren: wenn die Kaiserin bei Barak alleine zurückbleibt, Mitleid mit dem gepeinigten Mann empfindet und sich dieser menschlichen Regung voll bewusst wird. Auf dem Weg ihrer Verwandlung ist diese eine entscheidende Situation.“
Von der 55er Besetzung ist nurmehr Leonie Rysanek übrig geblieben. Den Kaiser singt Jess Thomas, die Amme Grace Hoffman. Barak und sein Weib sind auch im realen Leben ein Paar: Walter Berry und Christa Ludwig. Beide sind dabei, sich peu a peu das dramatische Fach zu erobern, und Karajan unterstützt sie nach besten Kräften. Doch gibt es in dieser Konstellation nur eine einzige Aufführung, nämlich die Premiere. In der zweiten Vorstellung singt die Alternativbesetzung (u. a. die junge Gundula Janowitz als Kaiserin) – und dann verschwindet auch diese Produktion in der Versenkung, für ganze 13 Jahre. Denn Karajan ist im Streit von der Staatsoper geschieden und hat verfügt, dass seine Inszenierung nur in seiner Fassung gespielt werden darf. Da sich niemand bereit findet, die drastischen Kürzungen und Umstellungen zu übernehmen, muss man warten, bis Karajan nach einem Kniefall der gesamten Republik Österreich 1977 an die Staatsoper zurückkehrt und eine Wiederaufnahme seiner Inszenierung gestattet – unter der Leitung von Karl Böhm und in der traditionellen Fassung.
Met 1966: „Zum ersten Mal ein echter Schlager“
Zurück ins Jahr 1964. Die Kunde vom rauschenden Erfolg der Karajan-Premiere dringt bis zur Metropolitan Opera New York. Doch deren Chef, der aus Wien gebürtige Rudolf Bing, ist nicht unbedingt ein Fan des Wagner/Strauss-Repertoires, und Die Frau ohne Schatten gehört weiß Gott nicht zu seinen Favoriten. Nun setzt Karl Böhm, für Bing einer der wichtigsten Dirigenten des Hauses, alles daran, dass gerade dieses Werk bei den Premieren zur Eröffnung der neuen Metropolitan Opera dabei ist. Und so malt er Bing in schillernden Farben aus, wie wunderbar man gerade mit dieser Zauber- und Märchenoper die stupende Bühnentechnik des neuen Hauses vorführen könnte. Bing gibt schließlich nach, beauftragt das bewährte Produktionsteam des Hauses, Nathaniel Merrill / Robert O’Hearn, mit der Inszenierung, stellt dem Wiener Trio Rysanek–Ludwig–Berry James King und Irene Dalis zur Seite – und will es kaum glauben, dass ausgerechnet das „Schmerzenskind“ den größten Erfolg in der ersten Spielzeit im neuen Haus verbucht. Nicht ohne Stolz schreibt er Jahre später in seinen Memoiren: „Zum ersten Mal seit ihrer Entstehung wurde Die Frau ohne Schatten zu einem echten Schlager.“
Bing hat Recht: Eigentlich kann man erst jetzt davon sprechen, dass sich das „schwierige“ Werk wirklich durchgesetzt hat – dank einer phänomenalen musikalischen Wiedergabe. In den folgenden Jahren reist das „Böhm-Team“ in Sachen Frau ohne Schatten um die Welt. Nach Paris, Salzburg, San Francisco, kommt es 1977 auch wieder nach Wien.
Vom Musik- zum Regietheater
Nachdem Karl Böhm 1978 seine letzte Vorstellung des Werkes dirigiert hat, ist Die Frau ohne Schatten im deutschsprachigen Raum fast schon ein Repertoirestück geworden. An allen bedeutenden Häusern gibt es Aufführungen in herausragenden Besetzungen: In München unter Wolfgang Sawallisch, in Berlin unter Heinrich Hollreiser, in Wien unter Horst Stein, in Köln unter John Pritchard, in Hannover unter Gerd Albrecht, in Hamburg unter Christoph von Dohnanyi. Das Hamburger Team bringt Die Frau ohne Schatten 1982 nach Moskau und 1984 nach Tokyo – und noch immer heißt die Kaiserin Leonie Rysanek.
1987 leitet Wolfgang Sawallisch in München die erste vollständig komplette Aufnahme des Werkes – was auf lange Sicht dazu führt, dass immer mehr Dirigenten die traditionellen Striche aufmachen und das vollständige Werk spielen (und was gleichzeitig die ohnehin schon diffizile Rolle der Amme zu einer Partie macht, die nur ganz wenige restlos bewältigen).
Mit dem Ende der Ära Böhm / Rysanek ergibt sich ein deutlicher Perspektiv-Wechsel, den man, grob vereinfacht auf die Formel bringen könnte: Vom Musiktheater zum Regietheater. Zwar gibt es nach wie vor hervorragende Sänger und Dirigenten für das Werk (was u. a. mehrere Aufführungsserien unter Christian Thielemann in Berlin bezeugen), doch im Mittelpunkt des Interesses stehen zunehmend die Inszenierungen. Und nicht selten sind es tatsächlich die Regisseure und Bühnenbildner, die in der Aufführungsgeschichte des Werkes neue Akzente setzen: Götz Friedrich (Salzburg 1992), John Cox / David Hockney (London 1992), Andreas Homoki / Wolfgang Gussmann (Genf 1992, Paris 1995), Hans Hollmann (Dresden 1997), Herbert Wernicke (Met 2001), Robert Carsen (Wien 2002) und Robert Wilson (Paris 2003).
Die Inszenierung des Kabuki-Künstlers Ennosuke Ichikawa, in der das Werk jetzt seine Erstaufführung am Teatro Real in Madrid erlebt, gehört zu den meist diskutierten Interpretationen in der Aufführungsgeschichte des Werkes. Mit ihr eröffnete das Ensemble der Bayerischen Staatsoper am 8. November 1992 in Nagoya das erste Opernhaus Japans. Nach der Premiere sprach Wolfgang Sawallisch, der die Aufführung dirigierte, von einer gelungenen Synthese: „Japanische und europäische Theatertradition haben sich in einem Gesamtkunstwerk gefunden“. Und vielleicht wird gerade bei dieser Inszenierung klar, dass Die Frau ohne Schatten nicht nur musikalisch-literarisch, sondern auch dramaturgisch durchaus mehr ist als „die letzte große romantische Oper“, nämlich ein Stück Welt-Kultur.
Thomas Voigt (C) 2005